Die sog. Gig-Economy, also die Beschäftigung von (Solo-)Selbstständigen, die ihren Lebensunterhalt von einem bezahlten Auftrag („gig“) zum anderen bestreiten, gewinnt im Kartellrecht an Bedeutung. Die Europäische Kommission sowie die niederländische Kartellbehörde haben jüngst diese Thematik an der Schnittstelle von Kartell- und Arbeitsrecht aufgegriffen.
Einigkeit besteht bei den Kartellbehörden insoweit, dass das Kartellrecht berechtigten Interessen von Beschäftigten nicht ohne Not im Wege stehen soll. Dies soll erst recht in Zeiten von Corona gelten, die gerade für Solo-Selbstständige oftmals besonders schwierig sind. Deshalb besteht umso mehr Bedarf an der Klärung zentraler Fragen: Sind Selbstständige in der Gig-Economy als Unternehmen im Sinne des Kartellrechts anzusehen? Sind deshalb Absprachen zwischen Selbstständigen über ihre Bezahlung tatsächlich verbotene Preisabsprachen oder eine berechtigte Bündelung ihrer Interessen? Dürfen Auftraggeber in der Gig-Economy ihren Auftragnehmern vorgeben, welche Preise diese von ihren Kunden verlangen sollen? Für die Geschäftsmodelle großer Plattformen sind die Antworten auf diese Fragen von entscheidender Bedeutung.
Problematik: (Solo-)Selbstständige als Unternehmen oder Arbeitnehmer: Entscheidende Weichenstellung für das Kartellrecht
Im Kartellrecht herrscht im Wesentlichen Einigkeit darüber, dass Arbeitnehmer nicht als Unternehmen im Sinne des Kartellrechts anzusehen sind: Entsprechend fallen Tarifverträge grundsätzlich nicht unter das Kartellverbot (vgl. EuGH, Albany; Van der Woude; FNV Kunsten Informatie en Media, vgl. auch Art. 28 Europäische Grundrechtcharta). Dies ergibt sich für Deutschland bereits aus Art. 9 Abs. 3 GG (Koalitionsfreiheit). Arbeitnehmer können daher ihre Interessen über Gewerkschaften bündeln und beispielsweise höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen fordern. Ein solches Verhalten ist vom Kartellverbot ausgenommen. Dies ist weitgehend unstreitig.
Ganz anders ist das Ergebnis bei Selbstständigen: Sie sind nach ständiger EuGH-Rechtsprechung als Unternehmen im Sinne des Kartellrechts anzusehen (vgl. EuGH, Pavlov). Tun sich beispielsweise mehrere Webdesigner als Solo-Selbstständige zusammen, um Aufträge über Plattformen zu erhalten, und fordern sie dafür von ihren Auftraggebern eine bessere Bezahlung ihrer Aufträge, laufen sie Gefahr, gegen das Kartellverbot zu verstoßen. Dasselbe gilt für Fahrer bei Mobilitätsplattformen oder Restaurantlieferdiensten.
Diese Schnittstelle zwischen Arbeitsrecht und Kartellrecht wird seit langem diskutiert (vgl. etwa ZAAR: Kartellrecht und Arbeitsmarkt, 2009; vgl. auch Forschungsbericht Bayreuther). Die Einzelheiten sind aber nicht vollständig geklärt. Insbesondere wird das Bedürfnis gesehen, Solo-Selbstständige in der Gig-Economy besser zu schützen.
Auch für die Frage, welche Vorgaben bei der Vergabe von Aufträgen gemacht werden dürfen, ist die kartellrechtliche Qualifikation der Beschäftigten maßgeblich: Als Arbeitnehmer gehören diese Personen zum Unternehmen, d. h. das Kartellrecht ist auf diese im Innenverhältnis nicht anwendbar. Sind sie dagegen selbst als Unternehmen anzusehen, kann die Vorgabe von Preisen vom Auftraggeber an den Auftragnehmer eine verbotene vertikale Preisbindung oder Hub-and-Spoke-Konstellation sein.
1. Einstufung von Selbstständigen in der Plattformökonomie: aktuelle Entwicklung
a. Vorhaben der Europäische Kommission
Die Europäische Kommission sieht zunehmend die Notwendigkeit, „Gig-Worker“ kartellrechtlich rechtssicher einzuordnen. Das Kartellrecht soll diejenigen, die Aufträge über Plattformen erhalten, nicht daran hindern, sich zusammenzutun, um für sich bessere Konditionen auszuhandeln. Kommissarin Vestager möchte derartige Beschäftigte besser schützen und sie kartellrechtlich wie Arbeitnehmer behandeln, d. h. das Kartellrecht soll nicht auf sie anwendbar sein, wenn sie sich zusammentun, um für eine bessere Entlohnung zu kämpfen (vgl. hier). Um Risiken für diese Beschäftigten aber möglichst auszuschließen, wollte die Europäische Kommission im Rahmen der Konsultation zum Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act) erst einmal ermitteln, wie genau die Beschäftigungsverhältnisse von sog. selbstständigen Einzelpersonen, die Dienstleistungen über Online-Plattformen anbieten, in der Praxis funktionieren. Es wurde insbesondere ermittelt, wie die Bezahlung der Dienstleistungen geregelt ist, welche Freiheiten bestehen und ob kollektive Verhandlungen gegenüber den Plattformen möglich sind. Als relevante Branchen und Dienstleistungen werden die Fahrvermittlung, Lebensmittelversorgung, Online-Übersetzungen, Dienstleistungen im Design, der Softwareentwicklung, im Bereich Heimwerkerdienste, im kreativen Bereich oder in der Hausarbeit genannt. Es ist zu erwarten, dass die Europäische Kommission nach Auswertung der Konsultationsergebnisse kurzfristig regulatorische Vorschläge auf den Weg bringen wird. Dabei dürfte dann auch klargestellt werden, auf welche Beschäftigten in der Plattformökonomie das Kartellrecht anzuwenden sein soll und auf welche nicht. Die Kommissionspräsidentin von der Leyen hat erst kürzlich eine Initiative zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten als eine der zentralen Initiativen für 2021 angekündigt.
Der Schutz von Beschäftigten in der Plattformökonomie ist im Europäischen Parlament bereits seit langem auf der Tagesordnung. Zuletzt ist dazu die Richtlinie (EU) 2019/1153 vom 20. Juni 2019 beschlossen worden, die einen besseren Schutz für Arbeitende in Gelegenheitsarbeit oder Kurzzeitarbeit in der Gig-Economy erreichen soll (vgl. hier und hier). Danach sollen in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie auch beispielsweise Hausangestellte, Arbeitnehmer, die auf Abruf, intermittierend, auf der Grundlage von Gutscheinen und auf Online-Plattformen beschäftigt sind, sowie Praktikanten und Auszubildende fallen. Ihre Beschäftigungsverhältnisse sollen damit besser geschützt werden. Personen, die tatsächlich selbstständig sind, unterfallen dem Geltungsbereich dieser Richtlinie hingegen nicht.
Die Frage, ob Beschäftigte in der Gig-Economy als Unternehmen im Sinne des Kartellrechts anzusehen sind, ist damit allerdings noch nicht geklärt. Auch musste der EuGH dazu nicht in seinem Urteil im Vorabentscheidungsverfahren aus Spanien zu Elite Taxi/Uber (C‑434/15) eingehen. Dort ging es lediglich um die Frage, ob die Leistung von Uber als Verkehrsdienstleistung im Sinne des Unionsrecht einzustufen ist. Auch der Generalanwalt hat bewusst nicht dazu Stellung genommen, ob Uber-Fahrer als Arbeitnehmer oder Selbstständige anzusehen sind. Er hat allerdings das Abhängigkeitsverhältnis sowie die Kontrolle von Uber über die Fahrer adressiert und ist auch auf eine mögliche kartellrechtliche Hub-and-Spoke-Konstellation am Rande eingegangen (vgl. auch hier, Rz. 54). In Großbritannien hat der Supreme Court abschließend darüber zu entscheiden, ob Uber-Fahrer als Selbstständige anzusehen sind. Die drei Vorinstanzen hatten jeweils zugunsten der Fahrer entschieden, dass sie Beschäftigte („worker“) im Sinne arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften sind (siehe hier). Auch dort wird diese Frage jedoch nicht aus kartellrechtlicher Sicht, sondern aus arbeitsrechtlicher Sicht entschieden werden. Bei den Fahrern von deliveroo hatte es der englische High Court dagegen abgelehnt, diese als Beschäftigte anzusehen (vgl. hier). Anders beispielsweise in Frankreich, wo kürzlich der Cour de Cassation festgestellt hat, dass Uber-Fahrer nach arbeitsrechtlichen Standards als Arbeitnehmer anzusehen sind (vgl. Court de Cassation, Nr. 19-13.316 vom 4. März 2020, zitiert in Flash Reports on Labour Law vom März 2020).
b. Richtlinien der niederländischen Kartellbehörde
Weiter bei der kartellrechtlichen Einordnung von (Solo-)Selbstständigen ist die niederländische Kartellbehörde ACM. Sie hat dazu im Jahr 2019 sehr ausführliche Richtlinien herausgegeben und im Juli 2020 aktualisiert (vgl. hier). Nach diesen Richtlinien dürfen Beschäftigte in zumindest in zwei Fallgruppen die Höhe ihre Entlohnung gemeinsam mit anderen Beschäftigten absprechen, ohne Gefahr zu laufen, einen Kartellrechtsverstoß zu begehen:
- Die erste Fallgruppe, die nicht vom Kartellrecht erfasst wird, betrifft die Scheinselbstständigen („working ‘side-by-side‘ with employees“). Wenn diese Beschäftigten de facto nicht von Arbeitnehmern zu unterscheiden sind, weil sie dieselben Aufgaben erledigen wie Arbeitnehmer, sollen sie auch kartellrechtlich nicht als Unternehmen, sondern als Arbeitnehmer zu bewerten sein. Das Kartellrecht soll dann insbesondere nicht gelten, wenn diese Beschäftigten zusammen ihre Entlohnung verhandeln wollen, unabhängig davon, ob das im Rahmen von Tarifverhandlungen geschieht oder nicht. Auch soll es dabei nicht darauf ankommen, ob diese Beschäftigten nur ihr Existenzminimum sichern wollen oder auskömmliche Einkünfte erzielen.
- Die zweite relevante Fallgruppe betrifft gemeinsame Verhandlungen von Selbstständigen zur Sicherung ihrer Existenzgrundlage. Nach Ankündigung der niederländischen Kartellbehörde werden keine Bußgelder verhängt werden, wenn sich Selbstständige zusammentun, um ihr Existenzminimum zu sichern. Ursprünglich war erwartet worden, dass Mindestlöhne für Selbstständige per Gesetz in den Niederlanden verankert werden, dann hätte es einer solchen kartellrechtlichen „Freistellung“ nicht bedurft. Da sich der niederländische Gesetzgeber darauf wider Erwarten nicht einigen konnte, soll das Kartellrecht nun auf Dauer Selbstständige nicht daran hindern, ihre Dienstleistungen zu Preisen anbieten zu können, die ihr Existenzminimum absichern. Absprachen darüber werden nicht als kartellrechtlich relevante Absprachen verfolgt. Dies soll es (Solo-)Selbstständigen ermöglichen, sich mit ihrer Arbeit eine ausreichende Existenzgrundlage zu schaffen.
c. Zwischenergebnis
Nach Auffassung der Europäischen Kommission und der niederländischen Kartellbehörde kann das Kartellrecht gerade in der heutigen Plattformökonomie Beschäftigten Beschränkungen auferlegen, die aus Sicht der Behörden nicht gewünscht sind. Vielmehr soll das Kartellrecht nicht gelten, wenn Beschäftigte zwar Selbstständige heißen, nach den Umständen des Einzelfalls aber als abhängig Beschäftigte einzuordnen sind.
2. Vertikale Preisbindung?
Die Frage, ob Beschäftigte als Arbeitnehmer oder Unternehmen im Sinne des Kartellrechts einzuordnen sind, hat kartellrechtlich noch weiterreichende Konsequenzen: Nicht nur stellt sich die Frage, ob sich die Beschäftigten über ihre Arbeitsbedingungen und Entlohnung absprechen dürfen, ohne gegen das Kartellrecht zu verstoßen. Auch für die Frage einer möglichen vertikalen Preisbindung ist entscheidend, ob sie als Arbeitnehmer oder Unternehmen im Sinne des Kartellrechts einzuordnen sind: Nur wenn es sich bei ihnen um Arbeitnehmer handelt, können die Auftraggeber diesen ohne Weiteres die Preise vorgeben, die diese von ihren Kunden verlangen sollen. Handelt es sich dagegen um echte Selbstständige und damit Unternehmen im kartellrechtlichen Sinne, steht bei einer Preisvorgabe möglicherweise ein Verstoß gegen das Verbot vertikaler Preisbindung im Raum. Auch kann die Verwendung eines gemeinsamen Algorithmus als verbotene Hub-and-Spoke-Konstellation gewertet werden, bei der die Plattform dafür verantwortlich gemacht wird, dass die Auftragnehmer einheitliche Preise von den Kunden verlangen.
Konkret relevant geworden ist diese Thematik in den Fällen, in denen in den USA eine Klage gegen Uber vor den Zivilgerichten wegen Kartellverstoßes angestrengt wurde (vgl. hier). Geltend gemacht wurde insbesondere ein Hub-and-Spoke-Kartellverstoß. Allerdings hat darüber im Februar 2020 ein Schiedsgericht entschieden und die Gründe nicht veröffentlicht; ein Rechtsmittel vor den ordentlichen Gerichten wegen Befangenheit des Schiedsrichters ist nicht erfolgreich gewesen (vgl. hier). Mit einer ähnlichen Konstellation hatte sich die luxemburgische Kartellbehörde im Fall der Taxivermittlung Webtaxi zu befassen: Es hat eine horizontale Absprache nach Art. 101 AEUV in der Festlegung der Preise über einen Algorithmus gesehen, diese aber aufgrund von Effizienzen einzelfreigestellt (vgl. hier).
Im Ergebnis ist daher in Europa noch nicht darüber entschieden, ob Konstellationen, in denen eine Plattform die Preise für diejenigen festlegen, die über die Plattform Dienstleistungen anbieten, eine vertikale Preisbindung oder ein Hub-and-Spoke-Konstellation darstellt. Auch die Entscheidung des EuGH in Sachen Eturas (vgl. hier) deckt derartige Konstellationen nicht unmittelbar ab. Allerdings macht der EuGH insoweit deutlich, dass ein Kartellverstoß über die Plattform in Betracht kommen kann. Vor diesem Hintergrund kann es für Plattformen aus rein kartellrechtlicher Sicht (nicht dagegen aus arbeits- und sozialversicherungsrechtlicher Sicht) von Vorteil sein, wenn diejenigen, die ihre Dienstleistungen über die Plattform anbieten, als Arbeitnehmer im Sinne des Kartellrechts gewertet werden. Kartellrechtliche Folgefragen stellen sich dann für den Plattformbetreiber in diesem Verhältnis nicht mehr.
Fazit
Die Kartellbehörden tun gut daran, nicht ohne Not gegen die Interessen von Selbstständigen, insbesondere Solo-Selbstständigen, vorzugehen. Dies gilt insbesondere in der Krise, in der sich der Beschäftigungsmarkt zugunsten der Arbeitgeber verschoben hat. Es ist daher zu begrüßen, dass die Kartellbehörden den Beschäftigten, aber auch den Auftraggebern Sicherheit geben wollen. Auch für die kartellrechtlichen Folgefragen ist eine rechtssichere kartellrechtliche Einordnung wichtig. Davon unabhängig ist weiterhin die arbeits- und sozialrechtliche Einordnung dieser Beschäftigten.
Autoren: Petra Linsmeier, Rut Steinhauser