Am 27. April 2022 hat das Bundeskabinett den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung weiterer Vorschriften beschlossen.
I. Ausgangslage
Aufgrund der COVID-19-Pandemie wurde im Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie vorübergehend die Möglichkeit geschaffen, Hauptversammlungen ausschließlich im virtuellen Format abzuhalten. Diese Sonderregelung tritt mit Ablauf des 31. August 2022 außer Kraft. Vor dem Hintergrund der grundsätzlich positiven Erfahrungen und der fortschreitenden Digitalisierung des Aktienrechts will der Gesetzgeber die virtuelle Hauptversammlung als dauerhafte Regelung im Aktiengesetz einführen. Zu diesem Zweck hatte das Bundesministerium der Justiz im Februar 2022 einen Referentenentwurf veröffentlicht, der durch den Entwurf des Bundeskabinetts vom 27. April 2022 überarbeitet wurde.
II. Neue Regelungen
Ziel des Regierungsentwurfs ist es, die Aktionärsrechte weitgehend an das Niveau der Rechtsausübung in einer Präsenzversammlung anzugleichen. Die virtuelle Hauptversammlung soll dabei eine vollwertige Alternative neben der Präsenzversammlung darstellen (keine „Versammlung zweiter Klasse“). Im Kern lässt sich der Entwurf wie folgt zusammenfassen:
- Voraussetzung für die virtuelle Hauptversammlung ist grundsätzlich eine Satzungsregelung – als direkte Regelung oder als Ermächtigung an den Vorstand – die spätestens nach fünf Jahren zu erneuern ist. Die Satzung soll dabei auch ausdrücklich bestimmte Gegenstände vorsehen können, die nicht in einer virtuellen Hauptversammlung behandelt werden dürfen, bspw. Beschlüsse über einen Squeeze-out. Zur Vermeidung von Rechtsunsicherheit wird darüber hinaus das Freigabeverfahren auf den Beschluss zur Satzungsänderung erstreckt, der die virtuelle Hauptversammlung in der Satzung verankern soll. Für einen Übergangszeitraum bis einschließlich 31. August 2023 kann der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats eine virtuelle Hauptversammlung auch ohne Satzungsermächtigung einberufen.
- Wird eine virtuelle Hauptversammlung abgehalten, ist die gesamte Versammlung mit Bild und Ton zu übertragen. Für die Aktionäre muss die Möglichkeit bestehen, ihr Stimmrecht im Wege elektronischer Kommunikation sowie durch Erteilung von Vollmachten auszuüben. Zudem muss es den Aktionären ermöglicht werden, während der Hauptversammlung Anträge zu stellen sowie Widerspruch gegen gefasste Beschlüsse zu erheben. Von den Anträgen sind im Gegensatz zum Referentenentwurf neben Verfahrensanträgen auch Gegenanträge und Wahlvorschläge umfasst. Schließlich muss der Bericht des Vorstands oder dessen wesentlicher Inhalt bereits sieben Tage vor der Versammlung zugänglich gemacht werden.
- Die Aktionäre erhalten ein Auskunftsrecht im Wege elektronischer Kommunikation, das durch den Regierungsentwurf aktionärsfreundlicher ausgestaltet wurde: Der Vorstand kann entscheiden, dass Aktionärsfragen bis spätestens drei Tage vor dem Versammlungstermin einzureichen sind. Dann hat die Gesellschaft diese Fragen aber auch bis spätestens einen Tag vor der Versammlung zu beantworten und muss im Gegenzug in der Versammlung selbst dazu keine Auskunft mehr geben. Der Umfang der Einreichung von Fragen kann in der Einberufung angemessen beschränkt werden, zum Beispiel durch eine Höchstzahl von Fragen pro Aktionär und einer Zeichenbeschränkung. Jeder Aktionär erhält in der Versammlung ein Nachfragerecht sowie ein Fragerecht zu neuen Sachverhalten. Auch Fragen, die bereits vor der Versammlung hätten gestellt werden können, sind zuzulassen, sofern das innerhalb des angemessenen Versammlungszeitraums möglich ist.
- Auch das Rederecht der Aktionäre wurde im Vergleich zum Referentenentwurf deutlich ausgeweitet: Das Rederecht ist in der Versammlung über Videokommunikation zu gewähren. Dabei dürfen Nachfragen sowie weitere Fragen Bestandteil des Redebeitrags sein. Anders als noch im Referentenentwurf ist nicht mehr vorgesehen, dass Redebeiträge mindestens vier Tage vor der Hauptversammlung vom Aktionär angemeldet werden müssen und ein angemessener Gesamtzeitraum sowie eine angemessene Anzahl an Redebeiträgen festgelegt werden kann. Die virtuelle Hauptversammlung soll dadurch möglichst stark der Präsenzversammlung angeglichen werden und über das zentrale Element der Debatte verfügen. Der sachgerechte Ablauf der virtuellen Hauptversammlung soll dabei analog der Präsenz-Hauptversammlung durch versammlungsleitende Maßnahmen sichergestellt werden, zum Beispiel mit Verkürzung der Redezeit. Insgesamt sollte die Dauer der virtuellen Hauptversammlung grundsätzlich mit ähnlicher Länge wie bei der Präsenzversammlung anzusetzen sein. Nach der Anregung A.4 des Deutschen Corporate Governance Kodex soll sich der Versammlungsleiter an einer Versammlungsdauer von vier bis sechs Stunden orientieren.
- Schließlich erhalten die Aktionäre bis spätestens fünf Tage vor der virtuellen Hauptversammlung das Recht, Stellungnahmen zu Gegenständen der Tagesordnung einzureichen, die dann allen Aktionären bis spätestens vier Tage vor Versammlung zugänglich zu machen sind. Die Gesellschaft kann es ermöglichen, dass Stellungnahmen später eingereicht werden dürfen. Der Umfang der Stellungnahmen kann angemessen auf eine bestimmte Zeichen- oder Minutenanzahl beschränkt werden. Die Ausgestaltung wird den Gesellschaften überlassen; denkbar sind hier Stellungnahmen in Text- oder Videoform.
- Wie bereits im Referentenentwurf vorgesehen, sollen die bestehenden Vorschriften des Aktiengesetzes, die Anfechtungsmöglichkeiten im Fall technischer Störungen begrenzen, auf die virtuelle Hauptversammlung ausgedehnt werden. Über solche technischen Störungen hinaus bleibt das Anfechtungsrecht eröffnet.
- Neben Aktiengesellschaften sind die Vorschriften auch auf die Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA), die Europäische Aktiengesellschaft (SE) und den Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG) anwendbar.
III. Gleiss Lutz kommentiert
Auch wenn die Initiative zu einer dauerhaften Implementierung der virtuellen Hauptversammlung im Gesetz zu begrüßen ist, wird die derzeit vorgesehene Ausgestaltung – aller Voraussicht nach – die dauerhafte Einführung einer virtuellen Hauptversammlung bei den Gesellschaften nicht beschleunigen. Im Gegenteil: Die Gesellschaften müssten nach dem jetzigen Entwurf alle wesentlichen Rechte der Präsenzversammlung gewähren und darüber hinaus die zusätzlichen Aktionärsrechte im Vorfeld der Versammlung einräumen sowie die notwendigen technischen Vorkehrungen treffen. Die aus der virtuellen Hauptversammlung in den letzten Jahren gewonnenen positiven Erkenntnisse werden durch den vorgelegten Entwurf leider kaum berücksichtigt. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass der Regierungsentwurf das herkömmliche Format der Präsenzversammlung in ein erweitertes virtuelles Format überführen möchte. Dass eine solche Ausgestaltung, die mit deutlich höherem Aufwand und Zusatzkosten verbunden ist, nicht attraktiv ist, hat schon die Hybridversammlung gezeigt. Trotz der dafür schon länger bestehenden gesetzlichen Möglichkeit, haben Gesellschaften davon bisher kaum Gebrauch gemacht. Es bleibt abzuwarten, wie sich das Gesetzgebungsverfahren weiterentwickelt – nach derzeitigem Stand ist wohl eher damit zu rechnen, dass die deutliche Mehrzahl der Gesellschaften im nächsten Jahr wieder eine Präsenzversammlung durchführen wird. Aufgrund der zeitnah außer Kraft tretenden Sonderregelung ist davon auszugehen, dass im Bundestag voraussichtlich noch vor der Sommerpause über den Gesetzesentwurf abgestimmt wird.