Es ist keine Untertreibung, die facettenreiche Illumina-Grail-Saga als eine der bedeutendsten Entscheidungen des formellen EU-Fusionskontrollrechts zu bezeichnen. Sie betrifft den Kern der formellen Fusionskontrolle, nämlich die Vorhersehbarkeit einer Anmeldepflicht und damit die Transaktionssicherheit und -planung. Sie hat in den letzten Jahren deshalb nicht nur die Kartellrechtswelt in Atem gehalten, sondern hat auch enorme Auswirkungen auf die M&A-Beratungspraxis.
Der EuGH (C-611/22 P und C-625/22 P) hat in seinem heutigen Urteil rechtskräftig entschieden, dass ein Mitgliedsstaat ohne nationale Zuständigkeit keine Verweisung eines Zusammenschlusses an die EU-Kommission nach Artikel 22 FKVO vornehmen kann. Der EuGH stellte klar, dass die gegenteilige Auffassung des Gerichts und zuvor der Kommissionauf einer fehlerhaften wörtlichen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung der Fusionskontrollverordnung beruhe.
Der EuGH betont, dass die meist umsatzbasierten Schwellenwerte der Fusionskontrolle „ein wichtiger Garant für Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit für die betroffenen Unternehmen sind“. Unternehmen müssten leicht feststellen können, ob ihr geplanter Zusammenschluss einem Vollzugsverbot unterliege und einer vorherigen Prüfung zu unterziehen sei und, wenn ja, durch welche Behörde und unter welchen Verfahrensanforderungen.
Ausgangspunkt des Rechtstreits war die Neuinterpretation von Artikel 22 FKVO durch die EU-Kommission im März 2021. Artikel 22 FKVO ermächtigt zur Verweisung von Fusionskontrollfällen von der mitgliedsstaatliche Ebene an die EU-Kommission. Er war ursprünglich als Auffangnetz gedacht, um Zusammenschlüsse aus Mitgliedsstaaten zu erfassen, die zum Zeitpunkt der Einführung der EU-Fusionskontrolle im Jahr 1989 noch kein eigenes nationales Fusionskontrollregime hatten (deshalb auch sog. niederländische Klausel). Die EU-Kommission wollte mit der Neubewertung aus dem Jahr 2021 entgegen der bisherigen Praxis auch Verweisungen von Mitgliedsstaaten mit eigenem Fusionskontrollregime annehmen deren Aufgreifschwellen selbst nicht erfüllt waren. Die EU-Kommission wollte damit eine vermeintliche Lücke in der Fusionskontrolle schließen, um sog. „Killerakquisitionen“ v.a. im Digital- und Pharmabereich prüfen zu können. Dabei handelt es sich in der Regel um hoch bewertete Start-ups mit sehr geringen Umsätzen unter den Aufgreifschwellen des EU-Kommission und der Mitgliedstaaten für sehr hohe Kaufpreise durch große etablierte Unternehmen erworben werden.
Fast zeitgleich zur Einführung dieser Neubewertung von Artikel 22 FKVO kam mit Illumina/Grail der erste Testfall: Der US-amerikanische Biotech-Riese Illumina kündigte im September 2020 an, das Startup Grail für ca. USD 7 Milliarden zu kaufen, weil es einen hochinnovativen Krebsfrüherkennungstest entwickelt hat. Die nicht zuständige französische Wettbewerbsbehörde verwies den Fall im März 2021 an die EU-Kommission, die die Verweisung annahm und den Zusammenschluss im September 2022 untersagte. Illumina hatte zwischenzeitlich den Erwerb vollzogen (hiergegen verhängte die EU-Kommission ein Rekordbußgeld in Höhe von EUR 432 Mio.).
Illumina ging nicht nur gegen die Untersagung ins Rechtsmittel, sondern griff bereits im April 2021 die Verweisungsentscheidung an. Das Gericht entschied dazu am 13. Juli 2022 (T-227/21) zugunsten der Kommission und segnete die Verweisung und damit die Neuinterpretation von Artikel 22 FKVO ab. Gegen diese Entscheidung legte Illumina wiederum Rechtsmittel zum EuGH ein. Am 21. März 2024 veröffentlichte der Generalanwalt Nicholas Emiliou (C-611/22 P, C-625/22 P) seine für den Gerichtshof nicht verbindlichen Schlussanträge und stufte mit deutlichen Worten den Ansatz der Kommission zu Artikel 22 FKVO als rechtswidrig ein. Ein nach nationalem Recht nicht zuständiger Mitgliedsstaat könne einen Fusionskontrollfall nicht per Artikel 22 FKVO an die EU-Kommission verweisen. Die Rechtssicherheit müsse Vorrang haben. Der EuGH ist diesen Schlussanträgen nun gefolgt, hat das Urteil des Gerichts aufgehoben und die Verweisungsentscheidung der Kommission für nichtig erklärt.
Folgen und Bewertung
Das Urteil des EuGH ist ein empfindlicher Rückschlag für die EU-Kommission. Die EU-Kommission ging nämlich gegen Illumina mit aller Härte vor: sie untersagte nicht nur den Zusammenschluss, sondern verhängte wegen des zwischenzeitlichen Vollzugs des Zusammenschlusses auch das höchst mögliche Bußgeld gegen Illumina wegen eines Verstoßes gegen das Vollzugsverbot. Außerdem wurde Illumina die Entflechtung des Zusammenschlusses aufgegeben, die zwischenzeitlich bereits vollzogen wurde.
Nach dem heutigen Urteil des EuGH ist offensichtlich, dass all diese Entscheidungen der EU-Kommission keinen Bestand haben können. Die EU-Kommission war für die Entscheidung über den Fall nicht zuständig, und mangels Anmeldepflicht unterlagen Illumina und Grail auch keinem Vollzugsverbot. Die EU-Kommission muss hier auch die Geltendmachung von Schadenersatzansprüche in empfindlicher Höhe befürchten, nachdem der Zusammenschluss auf ihre Anordnung hin entflochten werden musste.
Die weiteren Folgen des Urteils sind noch nicht vollständig absehbar, doch zeichnet sich bereits folgendes ab:
Die EU-Kommission muss von ihrem neuen Ansatz zu Artikel 22 FKVO von März 2021 Abschied nehmen und noch anhängige Fälle einstellen müssen. Dies ist aus Gründen Rechtssicherheit sehr zu begrüßen. Ohne eine politisch mühsame Änderung der Fusionskontrollverordnung kann sie diesen Weg nicht mehr beschreiten.
Gleichwohl lässt das begrüßenswerte Urteil die M&A-Welt nur teilweise aufatmen. Auch wenn Luxemburg nun Klarheit geschaffen hat, wird das Gut der Rechtssicherheit und die klare Vorhersehbarkeit von Anmeldepflichten durch andere Entwicklungen gefährdet.
Einige nationale Fusionskontrollregime haben in den letzten Jahren ex-officio Aufgreifmöglichkeiten (sog. call in-Möglichkeiten) unterhalb der umsatzbasierten Schwellenwerte geschaffen. Entsprechende Regelungen gibt es inzwischen z.B. in Dänemark, Irland, Italien, Schweden, Slowenien, Litauen, Lettland und Ungarn. Deutschland und Österreich führten bereits im Jahr 2017 Transaktionswertschwellen ein, um sog. Killerakquisitionen erfassen zu können. Infolge dieser Entwicklungen wurden die Zuständigkeiten der nationalen Behörden für die Prüfung von Zusammenschlüssen erheblich erweitert. Damit gibt es für die zuständigen Mitgliedstaaten auch erweiterte Möglichkeiten der „traditionellen“ Verweisung an die Kommission nach Artikel 22 FKVO als auch für Unternehmen nach Artikel 4 Abs. 5 FKVO. Gerade im Digitalbereich dürften diese Möglichkeiten verstärkt genutzt werden, da die unter den DMA fallenden Gatekeeper sind verpflichtet, die Kommission über jeden potentiell relevanten Erwerb im Digitalbereich zu informieren. Die Kommission informiert die Mitgliedstaaten über diese Mitteilungen, so dass diese von ihren „call in“-Befugnissen Gebrauch machen und ggf. eine Verweisung an die Kommission veranlassen können.
Daneben hat der EuGH in seiner Entscheidung in der Sache Towercast (C-449/21) aus dem Jahr 2023 die Möglichkeit einer ex-post-Kontrolle von vollzogenen Zusammenschlüssen durch nationale Wettbewerbsbehörden am Maßstab des Artikel 102 AEUV festgestellt. Grundsätzlich denkbar sind auch einstweilige Anordnungen der nationalen Behörden zur Verhinderung oder Abstellung etwaiger Verstöße gegen Art. 102 AEUV. Insofern ist es möglich, dass die Wettbewerbsbehörden dieses Werkzeug in ihrem Instrumentenkasten nun verstärkt zur Anwendung bringen. Angesichts der engen Voraussetzungen für einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV und den strengen Verfahrensanforderungen für Missbrauchsverfahren auf Basis dieser Vorschrift dürfte dieser ex-post-Kontrolle aber praktisch nur in wenigen Ausnahmefällen Bedeutung zukommen.
Die Unsicherheiten sind mit dem Urteil zwar nicht beseitigt, aber jedenfalls verringert und auf eine andere Ebene verlagert. Immerhin ist die Gefahr gebannt, dass nach nationalem Recht unzuständige Behörden durch einen Verweisungsantrag an die Kommission deren Zuständigkeit begründen können.
Durch andere regulatorische Instrumente, wie die Investitionskontrolle und die Foreign Subsidies Regulation oder aber auch die „freiwillige“ britische Fusionskontrolle, stellt sich bei vielen Zusammenschlussvorhaben für Zusammenschlussparteien ohnehin die Frage, ob wegen der nachträglichen Aufgreifmöglichkeiten eine rein vorsorgliche Anmeldung im Interesse von Rechts- bzw. Transaktionssicherheit im Einzelfall Vorteile bringt. Hierin fügen sich die neuen Entwicklungen ein. Es bleibt zudem abzuwarten, ob der EU-Gesetzgeber oder einige nationale Gesetzgeber mit angepassten Fusionskontrollregeln in den nächsten Jahren reagieren werden, um die angebliche Rechtsverfolgungslücke wieder zu schließen.
Dennoch ist dieses Urteil ein begrüßenswerter Meilenstein und ein willkommenes Warnsignal des Gerichtshofs an die Kommission, dass der Zweck im Rechtsstaat eben nicht die Mittel heiligt.