Die 11. GWB-Novelle („Wettbewerbsdurchsetzungsgesetz“) tritt am 7. November in Kraft. Die Fassung des Deutschen Bundestags vom 6. Juli 2023 ist vom Bundesrat am 29. September 2023 ohne Änderungen angenommen worden. Die finale Version des Gesetzes mildert den Regierungsentwurf vom 5. April 2023 (Beitrag vom 17. April 2023) und den Referentenentwurf des federführenden Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz („BMWK“) vom 15. September 2022 (Beitrag vom 28. September 2022) in einigen Punkten ab, in wesentlichen Punkten allerdings nicht. Vorausgegangen waren sehr kontroverse Debatten zwischen Befürwortern und Gegnern des Vorhabens.
Nach Ansicht des zuständigen Ministers handelt es sich um „die größte Reform des Wettbewerbsrechts seit Ludwig Erhard“. Die Novelle fügt dem GWB als dem „Grundgesetz der sozialen Marktwirtschaft“ eine vierte „Säule“ hinzu. Neben den drei bestehenden „Säulen“ – dem Kartellverbot, der Missbrauchsaufsicht über marktmächtige Unternehmen und der Fusionskontrolle – steht dem Bundeskartellamt ein neues Eingriffsinstrument zum „Schutz des freien und fairen Wettbewerbs“ zur Verfügung. Es kann künftig bei Sektoruntersuchungen festgestellte „erhebliche und fortwährende Störungen des Wettbewerbs“ durch zielgerichtete Maßnahmen abstellen bzw. beheben.
Ausgangspunkt der Novelle waren hohe Preissteigerungen in der Energiekrise im Jahr 2022, die sich auch an den Tankstellen bemerkbar machten. Die ursprüngliche Intention des BMWK war es, ein Kartellrecht mit „Klauen und Zähnen“ zu implementieren. In der Gesetzesbegründung wird als Ziel der Novelle benannt, dass „Störungen des Wettbewerbs im Sinne der Verbraucher besser abgestellt werden können. Dort, wo die Marktstruktur dem Wettbewerb entgegensteht, etwa weil es nur wenige Anbieter im Markt gibt und regelmäßig parallele Preisentwicklungen zu Lasten der Verbraucher zu beobachten sind, sollen die Eingriffsinstrumente des Kartellrechts geschärft“ werden.
Außerdem will die 11. GWB-Novelle die schon existierende Vorteilsabschöpfung (§ 34 GWB) erleichtern und die rechtlichen Grundlagen dafür schaffen, damit das Bundeskartellamt die Europäische Kommission bei der Durchsetzung des Digital Markets Act (DMA) unterstützen kann und Geschädigte den DMA in Deutschland vor den Zivilgerichten durchsetzen können.
I. Die Neuregelungen im Einzelnen:
1. Sektoruntersuchungen und Abhilfemaßnahmen (§ 32e und § 32f Abs. 3-9 GWB)
Sektoruntersuchungen werden künftig – in Anlehnung an das Vorbild aus Großbritannien – Konsequenzen haben können. Bislang waren Sektoruntersuchungen folgenlos und erschöpften sich im Wesentlichen in Abschlussberichten (vgl. etwa die Abschlussberichte zu Kraftstoffen (2011), zu Stromerzeugung und -großhandel (2011), zu Nachfragemacht im Lebensmitteleinzelhandel (2014) oder zuletzt zu Krankenhäusern (2021) sowie zur Erfassung von Haushaltsabfällen (2021). Lediglich im Anschluss an die Sektoruntersuchungen Walzasphalt (2012) sowie Zement und Transportbeton (2017) kam es zu umfangreichen Entflechtungen von Gemeinschaftsunternehmen, die allerdings auf Verwaltungsverfahren auf Basis von § 1 GWB bzw. deren Androhung beruhten. Dem Bundeskartellamt wird nun die Möglichkeit gegeben, Konsequenzen aus festgestellten Missständen zu ziehen und regulatorisch einzugreifen – und zwar ohne den Nachweis von konkreten Kartellrechtsverstößen.
Das Verfahren ist zweistufig ausgestaltet: Erst muss die Sektoruntersuchung durchgeführt werden, danach muss eine Wettbewerbsstörung festgestellt und eine Abhilfemaßnahme angeordnet werden.
Sektoruntersuchungen, § 32e GWB
Sektoruntersuchungen sollen nach § 32e Abs. 3 GWB künftig maximal 18 Monate dauern. Damit soll deren Effektivität gestärkt werden. In § 32e Abs. 4 GWB wird das Bundeskartellamt künftig zur Veröffentlichung von Zwischen- bzw. zumindest Abschlussberichten verpflichtet. Diese Berichte können wettbewerbspolitische Empfehlungen gegenüber der Bundesregierung enthalten. Im Rahmen der Ermittlungen sollen zukünftig auch Beschlagnahmen möglich sein. Im Mittelpunkt von Sektoruntersuchungen stehen jedoch üblicherweise Befragungen, Auskunftsersuchen (inklusive Datenerhebungen) und Informationsanalysen durch das Bundeskartellamt, auf deren Grundlage dann der Abschlussbericht erstellt wird.
§ 32f GWB als zentrale Norm des neuen Eingriffsinstruments
Kern des neuen Eingriffsinstruments und damit wesentliche Neuerung ist § 32f GWB. Die Norm verleiht dem Bundeskartellamt weitreichende Eingriffsbefugnisse nach Veröffentlichung des Abschlussberichts zu einer Sektoruntersuchung. Auch für diese zweite Stufe zur Feststellung einer Wettbewerbsstörung und zur Anordnung von Abhilfemaßnahmen soll das Bundeskartellamt nicht mehr als weitere 18 Monate Zeit in Anspruch nehmen (§ 32f Abs. 7 GWB). Maximal 36 Monaten nach Beginn einer Sektoruntersuchung soll das Verfahren vor dem Bundeskartellamt daher beendet sein.
Zentraler Anknüpfungspunkt ist nach § 32f Abs. 3 und Abs. 4 GWB die „erhebliche, fortwährende Störung des Wettbewerbs auf mindestens einem mindestens bundesweiten Markt, mehreren einzelnen Märkten oder marktübergreifend“.
Das Vorgehen nach dieser Norm unterliegt einer „weichen“ Subsidiarität vor allem gegenüber dem Kartellverbot und Missbrauchsregeln der §§ 1 und 19 ff GWB, die auf Betreiben des Wirtschaftsausschusses noch etwas angepasst wurde. Wie das Bundeskartellamt im Einzelnen nachweisen soll, dass die „sonstigen Befugnisse nach [dem GWB] nach den im Zeitpunkt der Entscheidung beim Bundeskartellamt vorliegenden Erkenntnissen voraussichtlich nicht ausreichen, um die Störung des Wettbewerbs wirksam und dauerhaft zu beseitigen“, ist nicht geregelt. Laut Gesetzesbegründung sollen die Darlegungsanforderungen hieran für das Bundeskartellamt aber nicht allzu hoch sein („kursorisch“, „muss keine weiteren Ermittlungen anstellen“).
Konkretisierung des Begriffs der Wettbewerbsstörung
Was eine „Störung des Wettbewerbs“ ist, versucht § 32f Abs. 5 GWB anhand von (nicht abschließenden) Regelbeispielen vielschichtiger wettbewerbsrechtlicher Schadenstheorien zu präzisieren, die aber ihrerseits sehr allgemein gehalten und auslegungsfähig und -bedürftig sind. Je nach Fallgestaltung sollen sie isoliert oder kumulativ in einer Gesamtschau für eine Feststellung einer erheblichen Wettbewerbsstörung relevant sein. Sie greifen teilweise die Faktoren von § 18 Abs. 3 GWB auf, weichen aber auch davon ab, indem sie insbesondere wettbewerbsbeeinträchtigende Marktergebnisse und Verhaltensweisen in die Gesamtschau einbeziehen. Es werden in § 32f Abs. 5 S. 1 „insbesondere“ vier Regelbeispiele genannt, bei denen eine Wettbewerbsstörung vorliegen kann, nämlich im Falle einer einseitigen Angebots- oder Nachfragemacht (Nr. 1), bei Beschränkungen des Marktzutritts, des Marktaustritts oder bei Beschränkungen der Kapazitäten von Unternehmen oder des Wechsels zu einem anderen Anbieter oder Nachfrager (Nr. 2), im Falle von gleichförmigen oder koordinierten Verhalten (Nr. 3) oder wenn Einsatzfaktoren oder Kunden durch vertikale Beziehungen abgeschottet werden (Nr. 4). Dieser Konkretisierungsversuch nimmt einen wesentlichen Kritikpunkt am Referentenentwurf auf. Allerdings verbleibt unverändert ein hoher Grad an Unbestimmtheit.
Für die Prüfung, ob eine Störung des Wettbewerbs vorliegt, sieht § 32f Abs. 5 S. 2 GWB eine Reihe weiterer Kriterien für die Einzelfallanalyse vor. Dies ist allerdings weder ein verbindliches noch abschließendes Prüfraster, sondern lediglich eine Soll-Vorschrift, die S. 1 ergänzt. Diese zusätzlichen Faktoren müssen auch nicht kumulativ vorliegen. Die Norm nennt vielmehr mögliche Anhaltspunkte, die auf eine Störung des Wettbewerbs hindeuten können (wie etwa Unternehmensverflechtungen (Nr. 2) sowie Preise oder Mengen, Auswahl und Qualität der angebotenen Waren (Nr. 3)). Relevant soll zudem der Grad der Marktdynamik sein (Nr. 6). Gemäß § 32f Abs. 5 S. 2 Nr. 7 GWB ist auch eine Effizienzverteidigung möglich.
§ 32f Abs. 5 S. 3 GWB stellt klar, dass die Wettbewerbsstörung nur dann fortwährend ist, „wenn diese über einen Zeitraum von drei Jahren dauerhaft vorgelegen hat oder wiederholt aufgetreten ist und zum Zeitpunkt der Verfügung nach Absatz 3 keine Anhaltspunkte bestehen, dass die Störung innerhalb von zwei Jahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit entfallen wird“. Auch hier verbleibt ein größeres Maß an Unsicherheit, und Prognoseentscheidungen des Bundeskartellamtes sind erforderlich.
Adressateneigenschaft
Die Adressateneigenschaft, die im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens etwas eingeschränkt wurde, setzt nach § 32f Abs. 3 S. 3 u. 4 GWB voraus, „dass [die] Unternehmen […] durch ihr Verhalten und ihre Bedeutung für die Marktstruktur zur Störung des Wettbewerbs wesentlich beitragen“ und dass „insbesondere die Marktstellung“ berücksichtigt wird. Diese Änderung im Vergleich zum Regierungsentwurf wurde vom Wirtschaftsausschuss noch durchgesetzt und dürfte vor allem kleinere Marktteilnehmer vor Abhilfemaßnahmen schützen, nicht aber vor der Sektoruntersuchung an sich.
Abhilfemaßnahmen
Auf der Rechtsfolgenseite sieht § 32f Abs. 3 S. 6 GWB als Regelfall die Anordnung von Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter oder struktureller Art vor. Verhaltensorientierte Maßnahmen sollen grundsätzlich Vorrang haben. Anders als in der präventiven Marktstrukturkontrolle von Zusammenschlüssen (vgl. § 40 Abs. 3 S. 2 GWB) sollen bei dieser neuartigen Marktstrukturkontrolle aber auch verhaltensorientierte Maßnahmen erlaubt sein, die eine laufende Verhaltenskontrolle nach sich ziehen.
Nicht abschließende und zum Teil sehr weitreichende Regelbeispiele sind nach § 32f Abs. 3 S. 6 GWB u. a. die Gewährung des Zugangs zu Daten, Schnittstellen, Netzen oder sonstigen Einrichtungen (Nr. 1), Vorgaben zu Geschäftsbeziehungen (Nr. 2), die Verpflichtung zur Gewährung sog. FRAND-Normen und Standards (Nr. 3), Befugnisse zu vertraglichen Vorgaben (Nr. 4), Verbote zur einseitigen Informationsoffenlegung (Nr. 5) und als strukturelle Maßnahme die buchhalterische oder organisatorische Trennung von Unternehmens- oder Geschäftsbereichen (Nr. 6).
Das Bundeskartellamt kann damit den betroffenen Unternehmen sehr konkrete Vorgaben zum Verhalten im Markt machen und die Einhaltung dieser Vorgaben langfristig überwachen, wenn das Bundeskartellamt davon überzeugt ist, dass diese Vorgaben geeignet sind, die Wettbewerbsstörung auf dem betroffenen Markt zu beseitigen. Das Bundeskartellamt kann damit stark in die Märkte eingreifen und den Unternehmen vielfältige Vorgaben machen.
Eigentumsrechtliche Entflechtung als ultima ratio
Das scharfe Schwert einer verstoßunabhängigen Entflechtungsanordnung nach § 32f Abs. 4 GWB soll unter strenger Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und weiterer Verfahrensschritte nur das letzte Mittel (ultima ratio) sein, wenn die erhebliche und fortwährende Wettbewerbsstörung nicht anders beseitigt oder erheblich verringert werden kann. Dieses Instrument ist auf marktbeherrschende Unternehmen beschränkt. Insoweit hat der Gesetzgeber auf Kritik an der Fassung des Referentenentwurfs reagiert.
§ 32f Abs. 4 S. 8 und 9 GWB legt einen Mindesterlös von 50 % des Werts als Voraussetzung für die Durchführung der Entflechtung fest und führt eine Entschädigungsregelung bei Wertunterschreitungen ein. So soll den verfassungsrechtlichen Bedenken an der Entflechtung Rechnung getragen werden. Bei einer Entflechtungsmaßnahme genießt eine fusionskontrollrechtliche Freigabe oder Ministererlaubnis zehn Jahre Bestandsschutz.
Rechtsschutz
Der Rechtsschutz für die Adressaten von Abhilfemaßnahmen ist im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens gestärkt worden. Die Feststellungsverfügung kann gerichtlich überprüft werden, nicht nur die belastenden Abhilfemaßnahmen selbst. Die Sektoruntersuchung als solche ist dagegen nicht isoliert anfechtbar. Das Rechtsmittel gegen die Abhilfemaßnahmen (vgl. § 66 Abs. 1 GWB) hat nun auch aufschiebende Wirkung. Unternehmen, die zu Abhilfemaßnahmen verpflichtet werden, können diese folglich vor Gericht prüfen lassen und müssen sie nicht sofort umsetzen, sondern erst, wenn ein Gericht die Rechtsauffassung des Bundeskartellamtes bestätigt hat. Insofern wurde auf die intensive Kritik aus der Praxis reagiert und dem Rechtsschutzbedürfnis von Unternehmen Rechnung getragen.
Sonstige Aspekte
Nach § 32f Abs. 6 GWB können betroffene Unternehmen dem Bundeskartellamt Verpflichtungszusagen anbieten, die das Bundeskartellamt für verbindlich erklären kann. Im Gegenzug soll es sich selbst binden können, von den Befugnissen nach § 32f Abs. 3 und 4 GWB keinen Gebrauch zu machen. Es ist denkbar, dass Unternehmen zur Abwendung einer Abhilfeverfügung und einer gerichtlichen Auseinandersetzung diesen Weg wählen.
§ 32f. Abs. 8 GWB sieht für regulierte Märkte (Eisenbahn, Post und Telekommunikation sowie die regulierten Elektrizitäts- und Gasversorgungsnetze) bei Abhilfemaßnahmen eine Einvernehmensregelung mit der Bundesnetzagentur vor, und die Bundesnetzagentur wird zu einer Stellungnahme dazu verpflichtet. Dies soll sicherstellen, dass die neuen Befugnisse des Bundeskartellamtes möglichst abgestimmt umgesetzt werden.
Aufgrund der Eingriffstiefe muss das Bundeskartellamt jetzt bei den Abhilfemaßnahmen des § 32f Abs. 3 S. 6 und Abs. 4 GWB als Ausprägung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs und im Hinblick auf das Transparenzgebot nach § 56 Abs. 7 GWB zwingend eine öffentliche mündliche Verhandlung durchführen, es sei denn die Beteiligten verzichten darauf.
Schließlich kam spät im Gesetzgebungsverfahren noch eine Evaluierungsklausel in § 32f Abs. 9 GWB ins Gesetz. Diese sieht vor, dass das BMWK zehn Jahren nach Inkrafttreten dem Gesetzgeber über die Erfahrungen mit § 32f GWB berichten muss.
2. Erweiterte Fusionskontrolle durch Einzelverfügung (§ 32f Abs. 2 GWB)
Sektoruntersuchungen können auch Auswirkungen auf die Fusionskontrolle haben. Nach § 32f Abs. 2 GWB können Zusammenschlüsse unterhalb der Schwellenwerte des § 35 GWB anmeldepflichtig sein, wenn das Bundeskartellamt in der Sektoruntersuchung Anhaltspunkte dafür gewonnen hat, dass weitere Zusammenschlüsse den Wettbewerb in der betreffenden Branche erheblich behindern würden. Für diesen Fall kann das Bundeskartellamt Unternehmen verpflichten, alle Zusammenschlüsse anzumelden, bei denen der Erwerber in Deutschland einen Umsatz von EUR 50 Mio. und das Zielunternehmen einen Umsatz von EUR 1 Mio. erzielt. Der Regierungsentwurf sah sogar nur EUR 0,5 Mio. vor. Die Bagatellmarktklausel des § 36 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 GWB wird für nicht anwendbar erklärt. Wie im bisherigen § 39a GWB gilt die Anmeldepflicht und damit das Vollzugsverbot drei Jahre ab Zustellung der Verfügung und kann mehrfach um drei Jahre verlängert werden. Diese Verlängerungsoption wurde durch den Wirtschaftsausschuss aber auf maximal dreimal begrenzt.
Diese Norm verschärft den bisherigen § 39a GWB deutlich, der erst mit der 10. GWB-Novelle eingeführt wurde. Systematisch wird die Norm aus dem bisher klar abgegrenzten Bereich der Fusionskontrollnormen der §§ 35 ff. GWB gelöst und an die weitreichenden Regeln der Sektoruntersuchung „angedockt“.
Relativ versteckt regelt § 187 Abs. 11 GWB, dass § 32f Abs. 2 GWB rückwirkend für Sektoruntersuchungen gilt, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der 11. GWB-Novelle bereits abgeschlossen waren, wenn die Veröffentlichung des Abschlussberichts nicht mehr als ein Jahr zurückliegt. Zu denken ist insoweit insbesondere an die im Mai 2023 abgeschlossene Sektoruntersuchung zur nicht-suchgebundenen Online-Werbung oder die noch laufende Ad-hoc Sektoruntersuchung Raffinerien und Kraftstoffgroßhandel.
3. Vereinfachte Vorteilsabschöpfung (§ 34 GWB)
Die Gesetzesbegründung bemängelt, dass die bisherigen rechtlichen Hürden für die Vorteilsabschöpfung gemessen am gesamtwirtschaftlichen Schaden von Kartellrechtsverstößen zu hoch sind und die relevante Norm daher nicht angewendet wird. So müssten die Kartellbehörden bislang komplexe Berechnungen des wirtschaftlichen Vorteils vornehmen und zusätzlich nachweisen, dass ein Unternehmen vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat. Mit der Neuregelung sollen Vorteilsabschöpfungen erleichtert und Unternehmen dadurch von Kartellrechtsverstößen abgehalten werden.
Nach § 34 Abs. 4 GWB gilt nunmehr eine doppelte Vermutung: Es wird vermutet, dass bei einem schuldhaft begangenen Kartellrechtsverstoß das zuwiderhandelnde Unternehmen einen wirtschaftlichen Vorteil erlangt hat. Außerdem soll die pauschale Vermutung gelten, dass ein Unternehmen mit dem nachgewiesenen Kartellrechtsverstoß einen Vorteil in Höhe von 1 % seiner Inlandsumsätze mit dem betreffenden Produkt oder der betreffenden Dienstleistung erzielt hat. Allerdings soll eine Deckelung bei 10 % des weltweiten Konzerngesamtjahresumsatzes im Vorjahr der Behördenentscheidung gelten.
Die pauschale Vermutung kann nur unter sehr restriktiven Voraussetzungen widerlegt werden. Dies ist dann möglich, „soweit das Unternehmen nachweist, dass weder die am Verstoß unmittelbar beteiligte juristische Person noch das Unternehmen insgesamt Abschöpfungszeitraum einen Gewinn in entsprechender Höhe erzielt hat“ oder „wenn die Erlangung eines Vorteils aufgrund der besonderen Natur des Verstoßes ausgeschlossen ist". Die Begründung nennt hier sehr spezifische Ausnahmekonstellationen, bei denen es an der Kausalität des Verstoßes fehlt, wie z. B. Submissionsabsprachen, bei der kein an der Absprache beteiligtes Unternehmen den Zuschlag erhält oder einen Verstoß gegen das Boykottverbot, das sich im „Auffordern“ erschöpft, ohne dass dieser Aufforderung Folge geleistet wurde.
Verschulden wird weiterhin verlangt. Das war noch im Referentenentwurf anders. Weiterhin unklar bleibt, ob die 1 %-Regelung auch auf Verstöße anwendbar ist, die vor Inkrafttreten begangen wurden, weshalb insoweit mit Rechtsunsicherheit gerechnet werden muss.
Das Fristenregime der Vorteilsabschöpfung wird im Gegensatz zu den Plänen des Referentenentwurfs nicht verschärft. Es bleibt also bei einer Frist sieben Jahren (statt zehn Jahren) nach Beendigung des Verstoßes. Der maximale Abschöpfungszeitraum bleibt auf fünf Jahre begrenzt.
4. Anpassung der Verfahrensvorschriften zum Digital Markets Act („DMA“)
Das Bundeskartellamt bekommt durch die 11. GWB-Novelle die Befugnis, selbst Ermittlungen im Hinblick auf mögliche Verstöße von Gatekeepern gegen Art. 5, 6 und 7 DMA zu führen (vgl. § 32g GWB). Das Bundeskartellamt kann aber die Europäische Kommission lediglich unterstützen – unbeschadet der Möglichkeiten des Bundeskartellamtes, nach § 19a GWB außerhalb des Anwendungsbereichs des DMA vorzugehen. Nur die Europäische Kommission kann einen Verstoß gegen den DMA feststellen.
Außerdem werden durch die 11. GWB-Novelle die privaten Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten („private enforcement“) gestärkt. Die Gesetzesbegründung lehnt sich an die Vorschriften zur Erleichterung der privaten Rechtsdurchsetzung in Kartellsachen an, mit denen die Kartellschadensersatzrichtlinie umgesetzt wurden. Diese werden, dort wo es geboten ist, im DMA-Kontext für anwendbar erklärt. Zudem werden einige der für kartellrechtliche Zivilklagen geltenden Erleichterungen für anwendbar erklärt. Insbesondere hat demnach eine bestandskräftige Entscheidung der Europäischen Kommission, mit der ein Verstoß gegen die Verpflichtungen gemäß Art. 5-7 DMA festgestellt wurde, Bindungswirkung in Follow-on-Schadensersatzprozessen vor den deutschen Gerichten. Damit wird der Gerichtsstandort Deutschland für solche Klagen erheblich gestärkt.
Wie sonst auch im Kartellrecht wird eine Zuständigkeitskonzentration herbeigeführt, so dass die Kartellspruchkörper auch für Streitigkeiten zum DMA zuständig sind (§§ 87, 89 Abs. GWB), konkret die Kartellzivilkammern wegen der Änderung von § 95 Abs. 2 Nr. 1 GVG. Schließlich wird für das Bundeskartellamt die Möglichkeit geschaffen, sich in Gerichtsverfahren mit Bezug zum DMA am Verfahren zu beteiligen.
II. Bewertung und Ausblick
Die 11. GWB-Novelle stärkt die Befugnisse des Bundeskartellamtes durch die weiteren Eingriffsinstrumente deutlich. Mit der geplanten verstoß- und missbrauchsunabhängigen Marktstrukturkontrolle erhält das Kartellrecht eine vierte Säule, die neben dem Kartellverbot, der Missbrauchsaufsicht und der (präventiven) Fusionskontrolle gelten soll, selbst wenn für § 32f GWB jetzt in weicher Form eine Subsidiarität angeordnet wird.
Im Ergebnis bewirkt die 11. GWB-Novelle eine Verschärfung und einen Paradigmenwechsel im deutschen Wettbewerbsrecht. Die bisherigen Eingriffsbefugnisse empfand der Gesetzgeber als unzureichend, wenn eine Störung des Wettbewerbs ohne nachweisbaren Verstoß vorliegt, die marktstrukturelle Ursachen haben könnte. Wettbewerbsbehörden sollen dann nicht nur negative Strukturveränderungen verhindern können (Fusionskontrolle), sondern nunmehr auch vorzugswürdig definierte Strukturen gestalten können. Das Bundeskartellamt betont unter der derzeitigen Leitung allerdings, mit den neuen Möglichkeiten verantwortungsbewusst umzugehen und kein „Marktdesign“ betreiben zu wollen. Es bleibt zu hoffen, dass das Bundeskartellamt dieses Augenmaß bewahrt und sich mit den neuen Befugnissen nicht für politische Zwecke instrumentalisieren lässt.
Offen bleibt, ob die vom Gesetzgeber beschriebene Regelungslücke tatsächlich vorliegt. Dies war im Gesetzgebungsverfahren stark umstritten und wurde von Seiten der Wirtschaftsverbände und Teilen der Wissenschaft und Praxis in Zweifel gezogen. Die Gesetzesbegründung enthält hierzu jedenfalls keine neuen Argumente.
Ob die neue vierte Säule des Kartellrechts in den Praxisauswirkungen so bedeutsam ist, wie es der zuständige Minister beschreibt, bleibt ebenfalls abzuwarten. Das Bundeskartellamt geht selbst von etwa zwei Sektoruntersuchungen pro Jahr aus. Erste Feststellungsverfügungen und Abhilfeanordnungen werden durch die Zweistufigkeit des Verfahrens einige Zeit brauchen. Auch wegen der Rechtsschutzmöglichkeiten und der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde gegen die Abhilfemaßnahmen dürfte sich erst nach einigen Jahren zeigen, ob das das neue Eingriffsinstrument tatsächlich „Zähne und Klauen“ hat.
Die im Gesetzgebungsverfahren beschlossenen Rechtsschutzerweiterungen im Vergleich zum Ausgangsentwurf sind ein wichtiges Gegengewicht zu den weitreichenden kartellbehördlichen Eingriffsmöglichkeiten. Dies gilt umso mehr als § 32f eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe enthält, die erhebliche Auslegungsprobleme verursachen werden.
Die Präzisierungen sowie einige Abmilderungen des nun beschlossenen § 32f GWB gegenüber dem Referentenentwurf, die im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zwischen BMWK und BMJ und später dann im Wirtschaftsausschuss in das Gesetz Eingang gefunden haben, sind jedenfalls sehr zu begrüßen.
Die Ausdehnung der präventiven Fusionskontrolle, die mit § 32f Abs. 2 GWB fortgesetzt wird, entspricht parallelen Entwicklungen auf europäischer Ebene. Dies zeigt die Neupositionierung der Europäischen Kommission und des Gerichts (Illumina/Grail) zu Verweisungen nach Art. 22 FKVO auch von nicht originär zuständigen Mitgliedsstaaten sowie die jüngste Rechtsprechung des EuGH (Towercast) zur Anwendung von Art. 102 AEUV auf nicht anmeldepflichtige Zusammenschlüsse durch die nationalen Kartellbehörden. Die Rechtssicherheit für Unternehmenskäufe wird dadurch deutlich eingeschränkt, zumal die Ausweitung regulatorischer Verfahren im Bereich der Investitionskontrolle (Foreign Investment Control) und die neu eingeführte Kontrolle drittstaatlicher Subventionen auf EU-Ebene (Foreign Subsidies Regulation) weitere Hürden aufstellt.
Die Verfassungsmäßigkeit der vereinfachten Vorteilsabschöpfung, insbesondere der pauschalen und kaum widerlegbaren Vermutung eines Verletzergewinns, erscheint fraglich und klärungsbedürftig. Offene Fragen zum Verhältnis zu zivilrechtlichen Schadensersatzzahlungen über den Regelungsgehalt von § 34 Abs. 2 GWB hinaus und eine denkbare Privilegierung von Kronzeugen werden unverändert nicht geregelt. Dies sollte in einer künftigen Novelle angegangen werden. Dasselbe gilt für die Konkretisierung des Legal Privilege im deutschen Recht.
Die 11. GWB-Novelle setzt nur einen ersten Teil der wettbewerbspolitischen Agenda des BMWK vom 21. Februar 2022 mit zehn Punkten für nachhaltigen Wettbewerb als Konkretisierung des Koalitionsvertrages um. Weitere Elemente der Zehn-Punkte-Agenda, etwa mehr Rechtssicherheit für Kooperationen von Unternehmen für mehr Nachhaltigkeit sowie ein stärkerer Verbraucherschutz, sollen Gegenstand einer 12. GWB-Novelle noch in dieser Legislaturperiode werden. Heute hat das BMWK die Konsultation dazu gestartet: Öffentliche Konsultation zur Modernisierung des Wettbewerbsrechts – Wettbewerb weiter stärken (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz). Auch im Kartellrecht gilt, dass der Wandel beständig bleibt und offenbar immer schneller kommt.