Am 28. November 2024 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein bedeutendes Urteil zur deutschen Netzsystematik gefällt. Danach ist die sog. Kundenanlage in der jetzigen Form unionsrechtswidrig. Die Entscheidung wird weitreichende Konsequenzen für die dezentralen Energieversorgungsanlagen in Deutschland haben, da nicht nur Industrie-, Betriebs- und Gewerbenetze häufig als Kundenanlagen betrieben werden, sondern auch die Strom- und Gasnetze von Universitäten, Krankenhäusern, Einzelhandelszentren und weiteren Einrichtungen mit unterschiedlichen Letztverbrauchern in engem räumlichem Zusammenhang. Unternehmen sollten nun eine Bestandsaufnahme ihrer Netzsituation machen und bewerten, ob sie Betreiber oder Letztverbraucher einer Kundenanlage sind und welche Vorteile sich derzeit aus dieser Einstufung ergeben.
Hintergrund der Entscheidung
In Deutschland besteht bislang – vereinfacht – eine Dreiteilung in der lokalen Netzebene: Es gibt (i) das vollregulierte Verteilernetz, (ii) das teilregulierte geschlossene Verteilernetz (§ 110 EnWG) und (iii) die unregulierte Kundenanlage (§ 3 Nr. 24a EnWG als allgemeine Kundenanlage und § 3 Nr. 24b EnWG als Kundenanlage zur betrieblichen Eigenversorgung). Die Kundenanlage wurde 2011 in das EnWG eingeführt. Sie gilt als unreguliert, da für den Betrieb einer Kundenanlage keine regulatorischen Betriebs- oder Entgeltgenehmigungen erforderlich sind und die hohen organisatorischer Anforderungen des Verteilernetzes auf Kundenanlagen nicht anwendbar sind.
Die Kundenanlage ist seitdem vor allem auf dem „letzten Meter“ der Strom- und Gasverteilung relevant, nimmt den Strom bzw. das Gas aus dem (öffentlichen) Verteilernetz ab und verteilt die Energie an Letztverbraucher innerhalb eines abgeschlossenen Geländes. Kleinere Industrie-, Betriebs- und Gewerbegebiete werden daher typischerweise als Kundenanlagen betrieben. Die weite Verbreitung der Kundenanlage hat in den letzten Jahren bereits zu unterschiedlichen (höchstrichterlichen) Entscheidungen bezüglich ihrer Einstufung geführt. In seiner Leitentscheidung vom 12. November 2019 zur Abgrenzung von Kundenanlagen zu geschlossenen Verteilernetzen hat der BGH unterschiedliche Kriterien für die Abgrenzung herausgebildet (EnVR 65/18, Leitsatz 2, Rn. 32). Danach soll keine Kundenanlage mehr gegeben sein, wenn: (i) mehrere Hundert Letztverbraucher angeschlossen sind, (ii) die Anlage eine Fläche von deutlich über 10.000 m² versorgt, (iii) die jährliche Menge an durchgeleiteter Energie voraussichtlich 1.000 MWh deutlich übersteigt und (iv) mehrere Gebäude angeschlossen sind. Eine vergleichbare Situation führte im Jahr 2023 dazu, dass der BGH sich mit einem Vorlageersuchen an den EuGH wandte, um klären zu lassen, ob auch ein Wohnquartier, das zuvor ein Verteilernetz war und an das etwa 200 Wohnungen und ein Blockheizkraftwerk angeschlossen sind, eine Kundenanlage sein könne.
Kernpunkte der EuGH-Entscheidung
Der EuGH hat in seinem Urteil vom 28. November 2024 (Az. C-293/23) entschieden, dass die deutschen Regelungen zur Netzkategorie der Kundenanlagen – namentlich § 3 Nr. 24a und 24b EnWG – nicht mit dem Unionsrecht im Einklang stehen. Insbesondere widerspreche die deutsche Praxis der Richtlinie (EU) 2019/944 (Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie). Der EuGH argumentiert, dass die Mitgliedstaaten keine zusätzlichen Kriterien neben den im Unionsrecht vorgesehenen heranziehen dürfen, um bestimmte Netzarten vom Begriff des "Verteilernetzes" auszunehmen. Dies beeinträchtige die autonome und einheitliche Auslegung von Art. 2 Nr. 28 der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie.
In den Entscheidungsgründen ist der EuGH deutlich: Eigene nationale Ausnahmen von dem unionsrechtlich vorgesehenen Verteilernetz sind nicht zulässig. Insbesondere erlaube es die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie nicht, die Einstufung als Verteilernetz von (i) dem Zeitpunkt, zu dem ein solches Netz errichtet wurde, (ii) einer Sonderliefer- oder Erzeugungskonstellation innerhalb der Kundenanlage, (iii) von der Anzahl der angeschlossenen Letztverbraucher, (iv) der Rechtsform des Kundenanlagenbetreibers, (v) der Größe des Liefergebietes oder (vi) dem Stromdurchfluss abhängig zu machen. Damit schränkt der EuGH auch deutlich die oben wiedergegebene bisherige Rechtsprechung des BGH ein, wonach als Abgrenzungskriterien u.a. an den Stromdurchfluss, die Anschlussanzahl und die Größe des Liefergebietes angeknüpft wird.
Der EuGH stellt klar, dass jede Leitungsinfrastruktur, die zur Weiterleitung von Elektrizität mit Hoch-, Mittel- oder Niederspannung dient und zum Verkauf von Elektrizität an Kunden bestimmt ist, als Verteilernetz zu qualifizieren ist. Nur solche Ausnahmen, die auch bereits in der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie angelegt sind, könnten vom Mitgliedstaat genutzt werden. Das betrifft insbesondere das (teilregulierte) geschlossene Verteilernetz, Netze im Zusammenhang mit Bürgerenergiegesellschaften und Verbundnetze. Die bisherige, breit angelegte Praxis der Kundenanlagen wird sich aber nur schwer unter diese unionsrechtlichen Kategorien fassen lassen.
Betroffene Kundenanlagen
Das Urteil des EuGH betrifft eine Vielzahl von dezentralen Energieversorgungsanlagen in Deutschland, die bisher als Kundenanlagen eingestuft wurden. Die besondere Schwierigkeit dabei ist, dass die Einstufung als Kundenanlage als Selbsteinstufung ohne jegliche behördliche Beteiligung oder Bescheidung vorgenommen wurde. Vielfach wurden Kundenanlagen beim Netzbetreiber angeschlossen, ohne dass sich die Kundenanlagenbetreiber über ihre Netzeigenschaft und die mit der Kundenanlage einhergehende Privilegierung aktiv auseinandergesetzt haben.
Durch die breite Anwendungspraxis der Kundenanlage in Deutschland sind flächendeckend und branchenübergreifend eine Vielzahl von kleinräumigen Strom- und Gasverteilungen im engen räumlichen Zusammenhang betroffen. Neben den bereits genannten Industrie-, Betriebs- und Gewerbegebieten betrifft dies insbesondere auch Krankenhausgelände, Forschungseinrichtungen, Flughäfen, Universitätsgelände, Wohnquartiere, Einkaufszentren sowie Campingplätze.
Konsequenzen
Kundenanlagen waren bisher von den umfassenden regulatorischen Vorgaben für Verteilernetze ausgenommen und profitierten zudem von ökonomischen Anreizen wie der Befreiung von Netzentgelten und netzseitigen Abgaben (u.a. KWK- und Offshore-Umlage), wenn innerhalb der Kundenanlage Strom erzeugt und verteilt wurde. Netzentgelt und netzseitige Abgaben lösen erhebliche Kosten aus. Die Befreiung von diesen Kosten für Durchleitungen innerhalb der Kundenanlage war ein wichtiger ökonomischer Anreiz für die Errichtung von Erzeugungsanlagen (insb. Blockheizkraftwerke und PV-Anlagen) innerhalb einer Kundenanlage.
Zudem setzen einige energiewirtschaftliche Fördermechanismen, wie der Mieterstrom nach § 21 Abs. 3 EEG, voraus, dass das öffentliche Netz nicht genutzt wird. Diese Fördermechanismen setzen auf das verbreitete Modell der Kundenanlage auf, wobei der Gesetzgeber davon ausging, dass bspw. innerhalb von Wohnquartieren sowie Industrie- und Betriebsgeländen keine Netzdurchleitung stattfindet. Das EuGH-Urteil stellt diese Einstufung nun in Frage und könnte – bei einer Einordnung bisheriger Kundenanlagen als Verteilernetz – dazu führen, dass solche Fördermechanismen nicht mehr anwendbar sind und sich dadurch die Wirtschaftlichkeit von Erzeugungs- und Speicheranlagen in (bisherigen) Kundenanlagen verschlechtert.
Mit dem EuGH-Urteil droht weiter, dass die die meisten der bestehenden Kundenanlagen in ein reguliertes Umfeld überführt werden müssen und sie die regulatorischen Anforderungen für (geschlossene) Verteilernetze erfüllen müssen. Dies würde zusätzlichen organisatorischen Aufwand auslösen, da an Verteilernetze insbesondere Anforderungen zur Entflechtung und zur Erhebung von Netzentgelten gestellt werden.
Handlungsmöglichkeiten
Die EuGH-Entscheidung hat eine erhebliche Verunsicherung ausgelöst. Obwohl der EuGH zunächst nur zu einem Einzelfall entschieden hat, lassen die recht klaren Entscheidungsgründe kaum einen Spielraum dafür, dass die breite Anwendungspraxis der Kundenanlage doch noch rechtskonform sein könnte. Nun wird aber zunächst der BGH zu dem Ausgangsfall der EuGH-Vorlage entscheiden. Zudem könnten – wie bei vergleichbaren Unsicherheiten in der Vergangenheit – die Regulierungsbehörden Auslegungshinweise für den Übergangszeitraum geben.
Unternehmen sollten nun eine eigene Bestandsaufnahme ihrer Netzsituation vornehmen. Sie sollten dabei untersuchen, an welchen Standorten und mit welchen verbundenen Vorteilen und Nachteilen sie eine Kundenanlage betreiben oder als Letztverbraucher in eine Kundenanlage eingebunden sind. In einem zweiten Schritt können aus dieser Bestandaufnahme konkrete weitere Schritte abgeleitet werden, bspw. die Anpassung der lokalen Versorgungssituation, die Überführung der Kundenanlage in ein (geschlossenes) Verteilernetz oder die Änderung von (Konzern-)Standortverträgen. Bei anstehenden Investitionsentscheidungen in lokale Netze, insbesondere auch in eine dezentrale Stromversorgung durch PV-Anlagen oder Blockheizkraftwerken, sollte die EuGH-Entscheidung und die voraussichtlich daraus folgende weitgehende Einschränkung der deutschen Kundenanlage berücksichtigt werden.
Fazit
Das EuGH-Urteil vom 28. November 2024 stellt die Betreiber von und Letztverbraucher in Kundenanlagen vor erhebliche wirtschaftliche Herausforderungen. Die breite Anwendungspraxis der unregulierten Kundenanlage ist nicht mehr möglich. Die bisherigen ökonomischen Anreize, wie die Befreiung von Netzentgelten und netzseitigen Abgaben aber auch energiewirtschaftliche Förderungen und steuerliche Erleichterungen könnten entfallen. Betroffen sind davon nicht nur Industrie-, Betriebs- und Gewerbenetze, sondern, wie oben exemplarisch dargestellt, alle kleinräumigen Strom- und Gasverteilerkonstellationen. Die jeweilige Netzsituation sollte sowohl durch die Betreiber der Kundenanlage als auch deren Letztverbraucher neu bewertet werden. Es bleibt dabei abzuwarten, wie die Regulierungsbehörden und der Gesetzgeber auf das Urteil reagieren werden und welche konkreten Änderungen in der Praxis umgesetzt werden müssen.