Mehrere Mitgliedstaaten der Europäischen Union („EU-Mitgliedstaaten“) einschließlich Deutschlands hatten beschlossen, aus dem Energiechartavertrag auszusteigen (dazu bereits unser Beitrag vom 20. April 2023). Nun hat die EU-Kommission am 7. Juli 2023 bekanntgegeben, dass sie den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten einen gemeinsamen, koordinierten Austritt aus dem Energiechartavertrag vorschlagen wird. Daneben soll auch die Europäische Union („EU“), die ebenfalls Vertragspartei ist, nach Vorschlag der EU-Kommission aus dem Energiechartavertrag austreten. Entsprechendes gilt für Euratom.
Kurz nach dem Beschluss der Kommission traf der Bundesgerichtshof am 27. Juli 2023 in drei Verfahren weitreichende Entscheidungen zur Zulässigkeit von Schiedsverfahren. Diese Entscheidungen zeigen deutlich, dass die deutschen Gerichte das EU-rechtliche Verbot von intra-EU-Schiedsverfahren auf Grundlage des Energiechartavertrags auch im Kontext von ICSID-Schiedsverfahren uneingeschränkt zur Anwendung bringen werden.
Kehrtwende seitens der EU-Kommission
Bis vor Kurzem hatte die EU-Kommission noch dafür geworben, die EU-Mitgliedstaaten mögen die von ihr vorgeschlagenen Änderungen des Energiechartavertrags annehmen und billigen. Die Kehrtwende erfolgt nun vor dem Hintergrund, dass die überarbeitete Fassung des Energiechartavertrags, die eigentlich die nötige Flexibilität für die Neuausrichtung der europäischen Energiepolitik bringen sollte, nicht die erforderliche Zustimmung der Mitgliedstaaten fand (dazu der Beschluss der Kommission vom 7. Juli 2023 zur Rücknahme des Vorschlags für einen Beschluss des Rates C(2023) 4720 final, zuletzt abgerufen am 24. Juli 2023).
Gleichzeitig konstatiert die EU-Kommission, dass die Beibehaltung des Status quo keine Option sei. Zum einen stünden die Bestimmungen des Energiechartavertrags nicht mit dem Investitionsschutzkonzept der EU in Einklang, wie es in den CETA-Schlussanträgen des Generalanwalts Yves Bot beschrieben worden sei (dazu die Schlussanträge 1/17 vom 29. Januar 2019, zuletzt abgerufen am 24. Juli 2023). Zum anderen widerspreche der durch den Vertrag gewährte, zeitlich unbegrenzte Schutz für Investitionen in fossile Brennstoffe den EU-Klimaschutzzielen, wie sie etwa in dem europäischen Green Deal sowie dem Pariser Klimaschutzabkommen, dem auch die EU angehört, ihren Ausdruck fänden. Dies vernachlässigt zwar, dass der Reformvorschlag den Vertragsstaaten die Möglichkeit eröffnete, den Schutz selbst für bestehende Investitionen in fossile Brennstoffe nach Ablauf von 10 Jahren auszuschließen; die EU-Kommission hatte bereits angekündigt, von dieser Möglichkeit Gebrauch machen zu wollen, womit gerade kein zeitlich unbegrenzter Schutz für Investitionen in fossile Brennstoffe bestanden hätte (siehe Public Communication, 24. Juni 2022, zuletzt abgerufen am 24. Juli 2023). Dennoch ist aus aktueller Sicht der EU-Kommission ein Austritt aus dem Energiechartavertrag gemäß des Artikel 47(1) die einzig verbleibende Lösung, um die mit der Energiewende verbundenen Herausforderungen erfolgreich anzugehen. Eben diesen Austritt schlägt sie dem Rat nun vor (Beschluss der Kommission vom 7. Juli 2023 für einen Beschluss des Rates, COM(2023) 447 final, zuletzt abgerufen am 24. Juli 2023).
Weiterhin bestehender Schutz für Investitionen aufgrund der sunset clause des Energiechartavertrags
Wie bereits beschrieben bleiben Investitionen, die zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Rücktritts bereits unter dem Energiechartavertrag geschützt waren, aufgrund der sunset clause in Artikel 47(3) des Energiechartavertrags noch weitere 20 Jahre durch diesen geschützt (dazu unser Beitrag vom 20. April 2023). Die EU-Kommission hält diese Vorschrift, wie den Energiechartavertrag als solchen, zwar auf intra-EU-Sachverhalte für nicht anwendbar (Beschluss der Kommission vom 7. Juli 2023 für einen Beschluss des Rates, COM(2023) 447 final, zuletzt abgerufen am 24. Juli 2023). Sie scheint aber das Risiko zu erkennen, dass Schiedsgerichte ihre Auffassung zur Nichtanwendbarkeit des Energiechartavertrags auf intra-EU-Sachverhalte nicht teilen könnten. Dieses Risiko möchte sie mit einer für die Auslegung des Energiechartavertrags relevanten Einigung entsprechend Artikel 31(3)(a) des Wiener Abkommens über das Recht der Verträge zwischen den (europäischen) Parteien des Vertrags minimieren, indem klargestellt werden soll, dass das in Artikel 26 enthaltene Angebot auf Abschluss einer Schiedsvereinbarung nicht für intra-EU-Verfahren gilt (Beschluss der Kommission vom 7. Juli 2023 für einen Beschluss des Rates, COM(2023) 447 final, zuletzt abgerufen am 24. Juli 2023).
Ob eine innereuropäische Einigung dafür ausreicht, ist fraglich, da Artikel 31(3)(a) des Wiener Abkommens über das Recht der Verträge von „den Vertragsparteien“ spricht. Im Übrigen sind solche Übereinkünfte zwar von Schiedsgerichten in die Auslegung miteinzubeziehen und zu berücksichtigen. Dies bedeutet aber nicht zwingend, dass sich die Auslegung in jedem Fall durchsetzt. So kann eine Auslegungsübereinkunft für bestehende Investitionen im Einzelfall unbeachtlich sein, wenn dies nach dem Grundsatz von Treu und Glauben, dem Grundsatz der Waffengleichheit der (Schieds-)Parteien oder wegen andernfalls drohender Verletzung schutzwürdiger Interessen des Investors unter Berücksichtigung aller Umstände angebracht ist.
Sehr zu begrüßen ist allerdings, dass die EU-Kommission überhaupt die Notwendigkeit erkannt hat, das Wiener Abkommen über das Recht der Verträge zu beachten. Der EuGH (Große Kammer) hatte es in seiner Entscheidung Republik Molday v. Komstroy LLC vom 2. September 2021 (C-741/19) nicht für notwendig erachtet, bei der Auslegung des Energiechartavertrags auf dieses Abkommen zu rekurrieren. Die Auslegung völkerrechtlicher Pflichten nur nach Standards der eigenen Rechtsordnung ist nicht nur völkerrechtswidrig, sondern auch eine Entwicklung, die gefährliche Präzedenzfälle schafft.
Sichern jüngste Entscheidungen des Bundesgerichtshofs das EuGH-Verbot der intra-EU-Schiedsverfahren weiter ab?
Kurz nach dem Beschluss der Kommission traf der Bundesgerichtshof am 27. Juli 2023 in drei Verfahren weitreichende Entscheidungen zur Zulässigkeit von intra-EU-Schiedsverfahren (I ZB 43/22, I ZB 74/22 und I ZB 75/22, Gegen Intra-EU-Investor-Staat-ICSID-Schiedsverfahren auf Grundlage des Energiecharta-Vertrags ist vorgelagerter nationaler Rechtsschutz möglich). Hintergrund waren Verfahren auf Feststellung der Unzulässigkeit schiedsrichterlicher Verfahren nach § 1032 Abs. 2 ZPO. Die Bundesrepublik Deutschland und das Königreich der Niederlande hatten diese Verfahren vor dem Kammergericht bzw. dem OLG Köln angestrengt im Kontext gegen sie auf Grundlage des Energiechartavertrags eingeleiteter ICSID-Schiedsverfahren. Während das Kammergericht den Antrag als unzulässig verwarf, da es sich bei der ICSID Convention um ein in sich geschlossenes Rechtsschutzsystem handele und § 1032 Abs. 2 ZPO daher keine Anwendung fände, gab das OLG Köln den Anträgen statt. Es argumentierte, das Verfahren des § 1032 Abs. 2 ZPO sei unter Berücksichtigung des vorrangigen EU-Rechts eröffnet und mit Blick auf die Achmea- sowie die Komstroy-Entscheidung des EuGH begründet (siehe zu diesen Entscheidungen bereits unser Beitrag vom 20. April 2023). Der Bundesgerichtshof schloss sich der Auffassung des OLG Köln an. Das Verfahren des § 1032 Abs. 2 ZPO sei statthaft, weil der Effektivitätsgrundsatz des EU-Rechts die ICSID Convention überlagere, die im Range (einfachen) Bundesrechts stehe (vgl. Art. 25 GG). Der Europäische Gerichtshof habe zudem klargestellt, dass intra-EU-Schiedsverfahren eine nachgelagerte gerichtliche Kontrolle erforderten; die Möglichkeit des Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO verlagere eine solche Kontrolle nach vorne und verhindere aufgrund der Bindungswirkung der gerichtlichen Entscheidung, dass ein in solchen Schiedsverfahren ergehender Schiedsspruch in Deutschland für vollstreckbar erklärt werde. Die Anträge nach § 1032 Abs. 2 ZPO seien auch begründet, weil nach der EuGH-Rechtsprechung das in Art. 26 des Energiechartavertrags enthaltene Angebot auf Abschluss einer Schiedsvereinbarung für intra-EU-Schiedsverfahren gegen Unionsrecht verstoße und damit unwirksam sei.
Erste Stellungnahmen würdigen diese Entscheidung sehr kritisch, insbesondere habe der Bundesgerichtshof die völkerrechtlichen Pflichten Deutschlands ignoriert. Richtig ist, dass sich der Bundesgerichtshof vor der Herausforderung sah, den Anwendungsvorrang des EU-Rechts mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik in Einklang zu bringen. Man wird jedoch die schriftlichen Entscheidungsgründe abwarten müssen, um zu beurteilen, mit welcher Argumentation der Bundesgerichtshof das Zurücktreten völkerrechtlicher Pflichten begründet. Jedenfalls steht nunmehr eines fest: Das EU-rechtliche Verbot von intra-EU-Schiedsverfahren werden die deutschen Gerichte auch im Kontext von ICSID-Schiedsverfahren auf Grundlage des Energiechartavertrags uneingeschränkt zur Anwendung bringen.