Nachdem die Differenzen zwischen den Parlamentariern im britischen Unterhaus zuletzt unüberbrückbar schienen, hat Theresa May in einem Überraschungscoup im Dezember die Abstimmung über das Brexit-Abkommen vertagt. Damit ist sie wohl einer Ablehnung des Abkommens zuvorgekommen. Kurz darauf überstand die Premierministerin noch ein Misstrauensvotum aus der eigenen Partei. Maßgeblich wohl auch wegen der Zusage, 2022 nicht mehr zu kandidieren. Zudem hat der EuGH zwischenzeitlich entschieden, dass die Briten ihren Austrittsantrag auch einseitig zurückziehen könnten.
Vertreter der EU und der Mitgliedsstaaten scheinen sich einig, außer unverbindlichen Zusicherungen keine weiteren Zugeständnisse machen zu wollen. Beim Gipfeltreffen Mitte Dezember in Brüssel jedenfalls blieb die EU hart. Die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten waren nicht gewillt, durch ein Entgegenkommen die Aufgabe von Frau May im britischen Parlament wesentlich zu erleichtern. Eine weiterhin kritische Rolle bei den Verhandlungen spielt das Nordirlandproblem und die hierzu gefundene Backstop-Lösung. Viele Briten – auch im Parlament – haben die Befürchtung, auf unbestimmte Zeit in einer UK-EU-Zollunion gefangen zu sein und so die vom Brexit erwartete neue Unabhängigkeit nicht zu erlangen. Unterm Strich scheint somit der Ausgang des Brexit-Prozesses offener denn je: Die Einigung auf ein Brexitabkommen (mit neuer Backstop-Lösung?), ein harter Brexit oder ein Exit vom Brexit, möglicherweise auch als Folge eines zweiten Referendums oder durch einen Rückzug des Austrittsantrags – all diese Szenarien scheinen nach jetzigem Stand möglich. Das Austrittsabkommen liegt als Entwurf immerhin schon einmal vor.
Ein kurzer historischer Abriss
„67 % der Briten sprechen sich für Verbleib in der Europäischen Gemeinschaft aus!“ Diese Schlagzeile wäre (leider) nur im Jahr 1975 zutreffend gewesen. Damals befragte der von der Labour Party gestellte Premierminister Harold Wilson die britische Bevölkerung in einem Referendum über einen Verbleib in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Großbritannien 1973 beigetreten war. Ungefähr 40 Jahre später, am 23. Juni 2016, hingegen überwog die Skepsis bei den Briten: 51,9 % stimmten diesmal für den Austritt aus der Staatengemeinschaft, die einiges vorzuweisen hat – mehr als eine halbe Milliarde Einwohner, eine eigene Rechtspersönlichkeit, Rederecht bei den Vereinten Nationen, zweitgrößter Wirtschaftsraum der Welt (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) und größter Güterproduzent der Welt.
Die britische EU-Skepsis ist nichts Neues. Das Königreich war gegenüber der Europäischen Integration stets etwas zurückhaltender. Dies äußerte sich im Laufe der jüngeren Geschichte in verschiedenen Formen, wie z.B. dem vergleichsweise späten Beitritt zur EWG, dem nur beschränkten Beitritt zum Schengen-Abkommen und dem Festhalten am Britischen Pfund als Währung. Eine geschichtliche Besonderheit ist auch der Briten-Rabatt: 1984 konnte Margaret Thatcher vereinbaren, dass Großbritannien einen wesentlichen Teil seiner Nettozahlungen zurückerhält, weil es kaum (etwa im Vergleich zu Frankreich) von den EU-Agrarsubventionen profitiere.
Als Folge des Referendums hat Theresa May am 29. März 2017 in ihrem „Brief aus London“ dem Ratspräsidenten Donald Tusk offiziell den Austritt Großbritanniens aus der EU mitgeteilt. Für diesen Fall sieht der EU-Vertrag vor, dass der austretende Mitgliedsstaat und die EU zwei Jahre – also bis zum 29. März 2019 – Zeit haben (eine Verlängerung dieser Frist ist möglich), um ein Austrittsabkommen mit den Einzelheiten zur Trennung zu verhandeln. Das Ende dieser zwei Jahre rückt mit großen Schritten näher und somit der Tag, bis zu welchem das Abkommen ratifiziert sein muss. Ob die Alternative zum Abkommen die volle Härte eines ungeordneten Brexits ist, kann jedoch nicht mit Sicherheit gesagt werden. Denn auch weitere Szenarien, wie ein Rücktritt von der Austrittserklärung, ein zweites Referendum oder auch das Ausnutzen der von Art. 50 EU-Vertrag vorgesehenen Möglichkeit einer Verlängerung der Zwei-Jahres-Frist sind denkbar.
Alles scheint möglich
In den letzten Wochen hat der Brexit jedenfalls noch einmal erheblich an Dynamik gewonnen. Nach dem überstandenen Misstrauensvotum managt Frau May zunächst weiterhin den Brexit für die Briten. 200 von 317 Tories sprachen der britischen Premierministerin ihr Vertrauen aus. Man darf annehmen, dass die verbleibenden Tories wohl auch gegen das Brexit-Abkommen gestimmt hätten. So hat sich der Nebel ein wenig gelichtet und man bekommt eine relative klare Idee der Zahl der Stimmen, die Frau May aus anderen Lagern für eine aus ihrer Sicht erfolgreiche Abstimmung einsammeln muss. Klar ist auch, dass sie alles in die Waagschale werfen muss, um durch weitere Verhandlungen mit der EU ihre Ausgangslage im britischen Unterhaus zu verbessern. Hauptproblem scheint hierbei, dass es wenig gibt, was Frau May in die Waagschale werfen kann. Sie ist vor allem vom Willen der EU-Vertreter und der Mitgliedsstaaten abhängig, ihr bei ihrem Vorhaben zu helfen. Wie sehr dies zutrifft, wurde beim Gipfeltreffen Mitte Dezember in Brüssel sichtbar. Die EU-Vertreter sehen Großbritannien eindeutig in einer Bringschuld und sind nicht gewillt, politische Geschenke zu verteilen. Gleichzeitig intensiviert man auf Seiten der EU die Vorbereitungen auf einen harten Brexit.
Interessant wird besonders die Frage, inwiefern Verhandlungsspielraum für Änderungen der im aktuellen Austrittsabkommen gefundenen Backstop-Lösung besteht (Einzelheiten hierzu siehe unten). An dieser entzündet sich ein Zielkonflikt, der sinnbildlich für das gesamte Brexit-Verfahren ist. Es geht um den Ausgleich des britischen Strebens nach Rückgewinnung von Kontrolle und dem gleichzeitigen Fortbestehen eines möglichst ungehinderten Handels mit der EU. Vor diesem Hintergrund stoßen sich die Briten vor allem an der mangelnden Möglichkeit, sich einseitig von der mit dem Backstop verbundenen Zollunion lösen zu können. Diese bedeutet nämlich, dass eine Vielzahl von Regeln für die Briten fortgelten würde, um einen möglichst freien Handel zu gewährleisten. Das ist der Tribut, den die EU für einen freien Handel einfordert. Sollte diese Haltung zu einem „hard Brexit“ führen, scheint die EU bereit, diese Konsequenz zu tragen. Wozu die EU nicht bereit zu sein scheint, ist die Grenze zwischen Nordirland (UK) und Irland (EU) weitestgehend offenzuhalten, wenn keine einheitlichen Regulierungsstandards gelten. Die Integrität des Binnenmarkts genießt für die EU einen äußerst hohen Stellenwert. In diesen sollen keine Waren unkontrolliert aus Drittstaaten (diesen Status hätten Großbritannien und Nordirland nach dem Brexit inne) fließen. Und so steht der Konsens, den Frieden in Nordirland durch Grenzkontrollen nicht gefährden zu wollen, im Spannungsverhältnis der Verhandlungsmaximen auf beiden Seiten des Ärmelkanals.
Es ist also keineswegs gesichert, dass Theresa May die durch die Vertagung der Abstimmung über das Brexit-Abkommen und das überstandene Misstrauensvotum gewonnene Zeit nutzen kann, um eine parlamentarische Mehrheit von ihren Vorhaben überzeugen. Folglich bekommen mehr als zuvor die verschiedenen Brexit-Szenarien wieder Aufwind und rücken in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Nicht zuletzt auch durch die EuGH-Entscheidung, wonach die Briten den Austrittsantrag einseitig zurücknehmen könnten. Somit sind alle Varianten, ein Brexit mit – ggf. leicht angepasstem – Austrittsabkommen, ein harter Brexit und der Exit vom Brexit, Szenarien, mit denen gerechnet werden muss. Vor allem beim Exit vom Brexit kommen verschiedene Spielarten in Betracht, etwa ausgelöst durch ein zweites Referendum oder die Rücknahme vom Austrittsantrag.
Das Austrittsabkommen hat im Gegensatz zu den weiteren Varianten den Vorteil, immerhin schon als Entwurf vorzuliegen und ist somit aktuell das zu Darstellungszwecken „greifbarste“ Szenario. Dies nehmen wir zum Anlass, es in seinen Grundzügen im Folgenden vorzustellen.
Das Brexit-Abkommen – Ergebnis eines tückischen Prozesses
In den vergangenen zwei Jahren gab es stets „mixed messages“ zum Verhandlungsstand. In kurzen Abständen folgten Presseveröffentlichungen, die entweder auf einen ungeordneten Austritt oder auf ein Zustandekommen eines Austrittsabkommens hinwiesen. Auf Erfolgsmeldungen über Verhandlungsfortschritte folgten Meldungen über unlösbare Meinungsdifferenzen, vor allem innerhalb der britischen Politik. Der Erfolg des Abkommens hing und hängt von der Zustimmung vieler ab: der EU-Mitgliedsstaaten, des EU-Parlaments, der britischen Regierung, des britischen Unterhauses und der dort vertretenen Vielzahl von Interessengruppen.
Das Brexit-Abkommen ist das vom EU-Vertrag vorgesehene Abkommen zwischen dem Austrittskandidaten und der EU, mit der Kommission als berufener Verhandlungsführerin, über die Details des Austritts. Es ist das Erste seiner Art und hat zwei Schwerpunkte: (1) Konditionen der Trennung und (2) Regelung einer Übergangsphase zwecks umfassender Einigung über die Ausgestaltung des zukünftigen Verhältnisses. Solch eine Übergangsphase ist keinesfalls von Artikel 50 EU-Vertrag vorgesehen. Es ist aber der Mechanismus im Austrittsabkommen, der sicherstellen soll, dass nicht mit offiziellem Austritt auf einen Schlag alle EU-Regeln keine Anwendung mehr finden. Er verhindert also, dass am Stichtag des Austritts ein enormes regulatorisches Vakuum eintritt.
Nordirland-Problem und Backstop-Lösung
Das Nordirland-Problem war der Faktor, der in den letzten Monaten einem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen entgegenstand und an welchem sich auch jetzt die Gemüter erhitzen. Geeinigt hat man sich auf eine “Backstop-Lösung”:
Klares Ziel ist die Vermeidung einer harten Grenze mit physischen Grenzkontrollen und zugehöriger Infrastruktur zwischen Irland (EU) und Nordirland (Vereinigtes Königreich). Denn erst 1998 wurden mit dem Karfreitagsabkommen (Good Friday Agreement) die gewalttätigen Auseinandersetzungen, die seit den 1960er Jahren den Nordirlandkonflikt charakterisierten, beendet. Es gestaltete sich während der Brexit-Verhandlungen schwierig, eine Lösung zu finden, da die britische Regierung einen Sonderstatus Nordirlands nicht akzeptieren wollte (auch auf Grund von Zusagen und Mehrheitskonstellationen im britischen Unterhaus). Großbritannien und Nordirland sollen dasselbe Schicksal teilen. Das fordert vor allem auch die nordirische DUP, die auch im Unterhaus mit 10 Sitzen vertreten ist. Dort haben sie eine Art Koalitionsvertrag mit den regierenden Tories. Diese Schicksalsgemeinschaft zwischen Nordirland und Großbritannien durchzuhalten, gleicht einer Quadratur des Kreises. Grenzkontrollen lassen sich nur vollständig vermeiden, wenn auf beiden Seiten die gleichen Regeln gelten und zudem keine Zölle anfallen. Sinn des Brexits aber ist eine größere regulatorische Freiheit für das Vereinigte Königreich. Deshalb ist die mit dem Backstop verbundene Zollunion („single EU-UK customs territory“) auch nach der Vertagung der Abstimmung im Unterhaus noch mehr in den Fokus gerückt.
Nach der immer noch möglichen Ratifizierung des Brexit-Abkommens und dem dann folgenden Eintritt in die Übergangsphase, und vor einem eventuellen Eingreifen der Backstop-Lösung, bliebe Großbritannien im Binnenmarkt und würde mit der EU eine Zollunion bilden. So würden die Auswirkungen auf den Handel so gering wie möglich gehalten. Insofern hätte das Königreich während der Übergangsphase die Stellung eines faktischen EU-Mitglieds, das weiter nach EU-Regeln spielen müsste, ohne ein eigenes Mitspracherecht zu haben. Ein Umstand, der naturgemäß für die Brexiteers schwerlich akzeptabel ist. Gemäß der Backstop-Lösung würde das Königreich auch über die Übergangsphase hinaus eine Zollunion mit der EU bilden (Großbritannien ohne Nordirland: Zollunion ja, Binnenmarkt-Regeln nein), sollte man bis zum Ablauf der selbigen keine Handelsvereinbarung gefunden haben, die eine harte Nordirland-Irland-Grenze vermeidet. Konsequenz hiervon ist die Fortgeltung einheitlicher Regulierungsstandards für die Mitglieder der Zollunion und somit die Bekenntnis Großbritanniens zu einem „level playing field“. Im Q&A der Kommission zum Protokoll zur Nordirland-Frage heißt es hierzu wie folgt:
„The Protocol binds the UK to substantive rules, based on international and EU standards. Apart from competition rules, it is based on the principle of non-regression form the current level of protection under international and EU standards.“
Regulatorisch würde also für das gesamte Vereinigte Königreich erst einmal vieles beim Alten bleiben. Um wirklich eine harte Grenze vermeiden zu können, müsste Nordirland zudem eine weitere, als unerlässlich identifizierte, Serie von EU-Binnenmarkt-Regeln einhalten, vor allem in Bezug auf Umsatzsteuer und Produktstandards (Nordirland: Zollunion ja, Binnenmarkt-Regeln überwiegend ja). Ein gewisser Sonderstatus Nordirlands ließe sich am Ende also nicht vermeiden. Dieser ist aber so angelegt, dass sich die Sonderregeln von der Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt einhalten ließen.
Dass sich die Fortgeltung der Binnenmarkt-Regeln in Nordirland auch auf das Vereinigte Königreich auswirken kann, zeigt sich am für den Backstop vorgesehenen Beihilfenregime. Sollte sich nämlich eine UK-Beihilfe an ein UK-Unternehmen auch auf Nordirland auswirken, begründet dies eine Kontrollzuständigkeit der Kommission für diese Beihilfe. Wegen der engmaschigen Verwobenheit der Wirtschaft auf der britischen und irischen Insel und den geringen Anforderungen des EU-Beihilfenrechts an die zwischenstaatliche Auswirkung einer Beihilfe, dürfte solch eine Auswirkung einer UK-Beihilfe auch auf Nordirland schnell begründet sein. Ein weiterer Punkt, an welchem sich Verfechter eines unabhängigen Königreichs reiben werden.
Was müsste im Fall eines Brexit-Abkommens eigentlich noch bewältigt werden?
Kurz gesprochen: der Löwenanteil. Trotz seiner Wichtigkeit würde das Austrittsabkommen und die Übergangsphase vor allem gewährleisten, dass die Verhandlungen zunächst weitergehen könnten.
Abgesehen von den inhaltlichen Herausforderungen und der schieren Masse an Themen, die der Kooperationsvertrag (der Vertragskomplex, der die zukünftigen Beziehungen regeln würde) umfassen müsste, wären auch die Umstände, unter welchen die Verhandlungen stattfinden würden, eine wesentliche Schwierigkeit. Anders als noch beim Brexit-Abkommen, ginge es nicht mehr nur um die Regelung eines vorläufigen Status, sondern die finale Ausgestaltung für die zukünftigen Beziehungen. Vor allem für die Verhandlungsführer auf britischer Seite würde die Übergangsphase zum kniffligen Balanceakt. Das Brexit-Lager wird sicherstellen wollen, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht auf Kosten der neuen britischen Autonomie erzielt wird. Wirtschaftsvertreter hingegen würden alle Mittel in Bewegung setzen, um auch zukünftig mit möglichst wenig Handelshemmnissen konfrontiert zu sein.
Auf Seiten der EU würde wohl das Credo wiederholt werden, dass ein umfangreicher Zugang zum Binnenmarkt nur bei bestehendem „level playing field“ gewährt werden kann. Britische und EU-Unternehmen müssen also äquivalenten regulatorischen Anforderungen unterliegen. Naturgemäß ist dies einfacher zu erreichen, wenn man wie bisher geschehen schlicht dieselben Regeln anwendet, weil sich dann die Äquivalenzfrage von Anfang an nicht stellt. Aus Sicht der EU muss verhindert werden, dass britische Unternehmen Wettbewerbsvorteile auf dem Binnenmarkt haben oder einen einfacheren Marktzutritt zum Binnenmarkt als umgekehrt EU-Unternehmen zum britischen Markt genießen (gleicher Marktzugang bei gleichen Wettbewerbsregeln).
In der politischen Erklärung der Kommission bezüglich der zukünftigen Beziehung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich heißt es in Bezug auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit:
„Comprehensive arrangements creating a free trade area combining deep regulatory and customs cooperation, underpinned by provisions ensuring a level playing field for open and fair competition (…)”
Dies wäre die Benchmark, welche die EU für ein Freihandelsabkommen anlegen würde.
Das Brexit-Abkommen unter der Lupe
Die Übergangsphase
Zunächst einmal sieht das Austrittsabkommen eine Übergangsphase im Anschluss an den Austritt Großbritanniens aus der EU bis zum 31. Dezember 2020 vor. Diese soll von den beiden Parteien dazu genutzt werden, die Ausgestaltung ihrer zukünftigen Beziehungen zu vereinbaren. Zwar hat Großbritannien in diesem Zusammenhang stets durchblicken lassen, dass es den Abschluss eines umfassenden Freihandelsabkommen anstrebt. Denkbar wären allerdings auch andere Modelle (z.B. nach dem Vorbild der Beziehung der EU zu Kanada, der Ukraine, der Türkei, der Schweiz oder Norwegen). So erhält z.B. Norwegen über das EWR-Abkommen Zutritt zum Binnenmarkt, muss aber Beitragsleistungen erbringen und EU-Regeln – vor allem auch die Personenfreizügigkeit – beachten, ohne ein wirkliches Mitspracherecht bei Gesetzgebung und Rechtsprechung zu haben. Einige – die aus Sicht von Norwegen besonders wichtige Bereiche der Fischerei (eigene Fangquoten) und Landwirtschaft – sind hiervon aber ausgenommen. Insgesamt scheint ein solches Modell nicht wirklich für die Briten geeignet, denen vor allem die Rückgewinnung von Kontrolle wichtig ist, was beim Modell „Norwegen“ nur sehr beschränkt der Fall wäre.
Unabhängig davon, welche Richtungen etwaige Verhandlungen ab dem 29. März 2019 einschlagen würden, sähe das Austrittsabkommen die Möglichkeit einer einmaligen Verlängerung der Übergangsphase vor. Diese könnte bis zum 1. Juli 2020 jeweils von dem Joint Committee entschieden bzw. von Großbritannien beantragt werden, wobei weitere Kosten auf Großbritannien zukommen würden. Das Joint Committee, gebildet aus Vertretern beider Parteien, wird im Anschluss an den Austritt Großbritanniens ins Leben gerufen werden, um den Austrittsprozess zu überwachen.
Obwohl Großbritannien mit dem Austritt den EU-Mitgliedsstatus verliert, wäre es während der Übergangsphase noch an sämtliche EU-Verträge gebunden, gleichzeitig aber von allen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Ab dem 29. März 2019 würden also keine Vertreter Großbritanniens mehr in den EU-Institutionen tätig sein. So gesehen würde Großbritannien auch nach seinem Austritt aus der EU noch mitspielen – die Spielregeln hingegen bestimmen von dem Zeitpunkt an jedoch andere.
Ausstieg aus Binnenmarkt/Zollunion
Das Königreich hat stets betont, dass es den Ausstieg aus dem Binnenmarkt und der Zollunion beabsichtigt. Zunächst aber bliebe man bis zum Ende der Übergangsphase Teil davon. Sofern eine Vereinbarung über die zukünftigen Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien nicht bis zum Ende der Übergangsphase erzielt würde, bliebe Großbritannien auch darüber hinaus weiterhin Mitglied der Zollunion (siehe oben: Backstop-Lösung). In Nordirland würden zusätzlich ebenfalls die Vorschriften über den Binnenmarkt (mit Ausnahme der Vorschriften über die Fischerei-Industrie) Anwendung finden (siehe oben).
Darüber hinaus bestünde sowohl für die EU als auch für Großbritannien die Möglichkeit, nach Ende der Übergangsphase unter Angabe von Gründen, die Aufhebung des Austrittsabkommens zu fordern. Die endgültige Entscheidung läge jedoch bei dem Joint Committee, welches diese innerhalb von sechs Monaten nach Erhalt des Aufhebungsgesuchs zu treffen hätte.
Gerichtsbarkeit des EuGH
Auch das Ziel Großbritanniens, sich von der Bindungswirkung der Rechtsprechung des EuGH zu befreien, müsste zunächst noch bis zum Ende der Übergangsphase warten. In Bezug auf das Austrittsabkommen würden die Vorschriften mit Bezug zum EU-Recht gemäß der EuGH-Rechtsprechung interpretiert. Laufende Gerichtsverfahren und solche, die vor Ablauf der Übergangsphase von Großbritannien angestrengt wurden oder gegen es gerichtet sind, unterfielen ebenfalls der Jurisdiktion des EuGH. EU-Rechtsverstöße durch Großbritannien, begangen vor Ablauf der Übergangsphase, könnte die Kommission bis zu 4 Jahre nach Ende der Übergangsphase beim EuGH anhängig machen. Auch vor Ablauf vorgelegte Vorabentscheidungsfragen unterfielen der EuGH-Jurisdiktion. Entscheidungen des EuGH, die vor Ablauf der Übergangsphase gefällt würden, blieben für Großbritannien bindend und im gesamten Vereinigten Königreich durchsetzbar/vollstreckbar.
Personenfreizügigkeit
Positiv bemerkenswert sind der Fokus auf und die klare Priorisierung der vom Brexit im besonderen Maße betroffenen Menschen, die sich entweder als EU-Bürger ein Leben in Großbritannien, bzw. als Briten in der EU eingerichtet haben. Hier ist klar erkennbar, dass diese grundlegende Lebensentscheidung von den Verhandlungsparteien geachtet und entsprechend berücksichtigt wurde. So umfasst das Austrittsabkommen eine Zusicherung an alle EU-Bürger auch weiterhin die Rechte zu genießen, die für eine Fortsetzung der errichteten Lebensumstände erforderlich sind, wie ein lebenslanges Aufenthaltsrecht, eine Arbeitserlaubnis oder das Recht, im Wohnsitzland zu studieren. Stichtag ist insoweit der 31. Dezember 2020 (d.h. das Ende der Übergangsphase). Erfasst würden ebenfalls Familienmitglieder – unabhängig von ihrem Aufenthaltsort am Ende der Übergangszeit – sowie nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU geborene Kinder.
Wettbewerbsrecht
Aktuell besteht eine parallele Zuständigkeit der Kommission und der britischen Wettbewerbsbehörde, der UK Competition & Markets Authority (CMA). Bei Kartellverstößen (Kartellabsprachen, Missbrauch von Marktmacht) existiert eine Arbeitsteilung (European Competition Network). Bezüglich Fusionskontrollfällen hat die Kommission eine ausschließliche Zuständigkeit, wenn der Zusammenschluss die EU-rechtlichen Schwellenwerte übersteigt. Unterhalb der Schwellenwerte obliegt die Fusionskontrolle der CMA. Die Beihilfenkontrolle wird hingegen allein von der Kommission durchgeführt.
Vor diesem Hintergrund sieht das Brexit-Abkommen vor allem Mechanismen vor, die gewährleisten würden, dass auch nach dem Brexit und während der Übergangsphase das Wettbewerbsrecht weiterhin effektiv durchgesetzt wird. Hierfür würden offene bzw. laufende Verfahren grundsätzlich auch nach den Regeln, also nach den EU-Wettbewerbsregeln, weiter durchgeführt. Beihilfenfälle, die vor dem Ende der Übergangsphase eröffnet werden, würden ebenfalls der fortgesetzten Zuständigkeit der Kommission unterliegen.
Finanzen
Schließlich adressiert das Austrittsabkommen auch die finanziellen Verpflichtungen Großbritanniens. Zwar werden keine konkreten Zahlen genannt, gleichzeitig wird jedoch festgelegt, dass Großbritannien sämtlichen Forderungen, die während seiner Mitgliedschaft begründet wurden, nachkommen muss. Während bestimmte Zahlungen (z.B. Mitgliedsbeiträge oder Beiträge für die Finanzierung bestimmter Behörden) nur bis zum Ende der Übergangsphase zu leisten wären, blieben andere Verbindlichkeiten (z.B. Pensionszahlungen für Angestellte bestimmter EU-Behörden) auch danach bestehen.
Ein Ausblick auf die zukünftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU nach einer Übergangsphase
Aufschluss und Einblicke auf die zukünftigen Beziehungen gewährt vor allem die „Politische Erklärung zur Festlegung des Rahmens für die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich“ als Grundlage für ein umfassendes Partnerabkommen nach der Übergangsphase. Diese ist Teil des Austrittsabkommens und müsste ebenso wie das Brexit-Abkommen ratifiziert werden, was ihren Stellenwert verdeutlicht. Inhaltlich handelt es sich um Absichtserklärungen in Bezug auf die vielen Themenbereiche der künftigen Beziehungen.
Ein klarer Fokus liegt auf ungehindertem Warenverkehr, ohne tarifäre und nicht-tarifäre Handelshemmnisse. Während der Verhandlungen wäre der Abbau der nicht-tarifären Handelshemmnisse eine zentrale Aufgabe, weil dieser das viel beschworene „level-playing field“ betrifft. Insbesondere für Finanzdienstleistungen will man einen „equivalence framework“ für umfangreichen Marktzugang schaffen.
Weitere Themen der künftigen Beziehungen sind Internethandel, Kapitalbewegungen, geistiges Eigentum, Mobilität (visafreies Reisen), Gütertransport (Luft, Schiene, Straße, See), enge Zusammenarbeit im Bereich der Nuklearenergie, Fischerei, Koordinierung bei globalen Problemstellungen, sowie Schaffung fairen Wettbewerbs. Die Vorzeichen sind stets die gleichen, nämlich ein möglichst weitreichender Marktzugang bei gleichzeitiger Autonomie und Erreichung bestimmter marktwirtschaftlicher Ziele wie Stabilität, Transparenz etc. Eine enge Zusammenarbeit bei internationaler Strafverfolgung, Außen- und Sicherheitspolitik oder Geheimdienstarbeit sind ebenfalls umfasst.
Bezüglich der zeitlichen Komponente wird noch einmal betont, dass die Verträge über die künftigen Beziehungen mit Ende der Übergangsphase, also Ende 2020, in Kraft treten sollen. In diesem Zusammenhang wird auch noch einmal die Wichtigkeit der erreichten Befriedung des Nordirland-Konflikts betont. Organisatorisch soll für die Verhandlungen während der Übergangsphase zunächst ein Zeitplan mit Verhandlungsschwerpunkten entwickelt werden (auch hier wird wieder die Vermeidung einer harten Grenze auf der irischen Insel hervorgehoben).
Im Abkommen ist das gesetzte Ziel ein Verhandlungsergebnis bis Ende 2020. Das Wort „ambitioniert“ scheint in diesem Zusammenhang eine Untertreibung (zum Vergleich: das Abkommen zur Transpazifischen Partnerschaft (TPP) wurde über einen Zeitraum von sieben Jahren verhandelt). Deshalb wird von vielen Seiten vorhergesagt, dass, sollte das Abkommen doch zustande kommen und man in die Übergangsphase eintreten, dieser Zeitrahmen wesentlich überschritten werden würde. Theoretisch ließe sich eine Übergangsphase unbegrenzt verlängern. Das Vereinigte Königreich und die EU könnten sich also in einem „Lost in Transition“-Zustand wiederfinden.
Was gilt für die Unternehmen?
Hier können wir Ihnen leider im Vergleich zu unseren letzten Newslettern (siehe www.gleisslutz-brexit.com) wenig Neues berichten. Es gibt auch weiterhin keinen Grund zur Entspannung. In der aktuellen Dynamik und Gemengelage scheint jedes Szenario möglich. Wer sich bisher nicht ausführlich mit der Thematik beschäftigt hat, sollte dies dringend nachholen. Das gilt für große ebenso wie für kleine und mittelständische Unternehmen. Eine Vorbereitung auf den Brexit ist dabei zum einen geboten, um ein böses Erwachen zu vermeiden. Zum anderen aber auch, um keinen Wettbewerbsnachteil gegenüber – gegebenenfalls besser – vorbereiteten Konkurrenten zu erleiden. Wir unterstützen Sie hierbei gerne.