
Am 9. April 2025 haben sich die Verhandlungsteams von CDU, CSU und SPD auf den Koalitionsvertrag geeinigt. Wie in unserer Kommentierung zum Ergebnispapier der Arbeitsgruppe Gesundheit und Pflege vom 31. März 2025 dargelegt, war der Wille in der Arbeitsgruppe Gesundheit und Pflege zu Reformen in jenem Themenbereich durchaus vorhanden. Inwieweit der Koalitionsvertrag das Ergebnispapier der Arbeitsgruppe aufnimmt, stellen wir nachfolgend dar.
A. Die wichtigsten Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag
- Finanzierung der GKV als Kernproblem: Der Koalitionsvertrag rückt, verglichen mit dem Ergebnispapier der Arbeitsgruppe Pflege und Gesundheit, verstärkt die Frage der Finanzierbarkeit von Maßnahmen durch Steuermittel in den Fokus. Vorhaben wie die unbedingte Fortführung des Paktes für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD), finden sich nur noch in abgeschwächter Form im Koalitionsvertrag wieder. Das Ziel, die Beitragssätze der GKV und der sozialen Pflegeversicherung zu stabilisieren, setzt die Koalition prominent an die erste Stelle ihrer Pläne für den Bereich Gesundheit und Pflege. Konkrete Maßnahmen zur Zielerreichung können dem Koalitionsvertrag indes nicht entnommen werden. Die im Ergebnispapier vorgesehene vollständige Steuerfinanzierung der derzeit nicht kostendeckenden GKV-Beiträge für Bürgergeldempfänger zur Schließung des strukturellen Defizits der Krankenkassen ist im Koalitionsvertrag nicht mehr enthalten. Gleiches gilt für die im Ergebnispapier angekündigte Zurückerstattung der während der Corona-Pandemie aus dem Ausgleichsfonds entnommenen 5,22 Milliarden Euro, wodurch die finanzielle Situation der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) stabilisiert worden wäre. Die neue Koalition möchte die finanzielle Lage der GKV verbessern, indem die Einnahmen durch ein höheres Beschäftigungsniveau vergrößert und die Ausgaben reduziert werden. Konkrete Strukturreformen sind im Koalitionsvertrag aber noch nicht benannt, vielmehr soll eine Fachkommission eingesetzt werden, die die gesundheitspolitischen Vorhaben bis Frühjahr 2027 evaluieren und einzelne Maßnahmen vorschlagen soll.
- Neues Primärarztsystem: Das bereits angekündigte Primärarztsystem ist in den Koalitionsvertrag übernommen worden. Danach werden Patienten künftig dazu verpflichtet, zunächst den Haus- oder Kinderarzt ihrer Wahl aufzusuchen, bevor ein Facharzt in Anspruch genommen werden kann. Ausnahmen gelten für Besuche bei Gynäkologen und Augenärzten sowie für Patienten mit schweren chronischen Erkrankungen. Mit der Pflicht für die Patienten korrespondiert eine Termingarantie. Die Terminvermittlung fällt in den Zuständigkeitsbereich der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV). Gelingt der KV die zeitgerechte Terminvermittlung nicht, dürfen auch Krankenhäuser Patienten ambulant behandeln. Letzteres ist nicht neu. Gemäß §§ 76 Abs. 1a, 75 Abs. 1a Satz 7 SGB V ist die ambulante Behandlung im Krankenhaus schon jetzt zulässig, wenn die Terminservicestelle der KV keinen fristgerechten Behandlungstermin bei einem Facharzt vermitteln kann. Gelebt wird diese Option allerdings bisher kaum. Die bereits angemahnten Fragen, ob mit diesem Primärarztsystem wegen der teilweise prekären hausärztlichen Versorgungslage nicht ein neuer Flaschenhals für die Versorgung geschaffen wird und wie die Fachärzte dazu gebracht werden, freie Termine zu schaffen, die die KV vermitteln kann, beantwortet der Koalitionsvertrag nicht. Gleiches gilt für die Frage, wie die Bereitschaft der Krankenhäuser gefördert werden kann, in solchen Fällen reguläre ambulante Behandlungen durchzuführen. Die praktische Umsetzung darf mit Spannung erwartet werden.
- Investorenbetriebene MVZs und Hybrid-DRGs mit Fragezeichen: Wie sich die Koalitionsparteien die Zukunft von Investor betriebenen Medizinischen Versorgungszentren (iMVZ) vorstellen, war bereits nach dem Ergebnispapier unklar. Klarheit schafft auch der Koalitionsvertrag nicht. Es wird lediglich der Erlass eines iMVZ-Regulierungsgesetzes in Aussicht gestellt. Im Fokus stehen soll dabei die Sicherstellung der „Transparenz über die Eigentümerstruktur sowie die systemgerechte Verwendung der Beitragsmittel“. Ob in der nächsten Legislaturperiode die von Herrn Prof. Lauterbach in der Vergangenheit angekündigten Beschränkungen von iMVZs weiterverfolgt werden und ob dabei die bestehenden verfassungsrechtlichen Grenzen beachtet werden, muss weiterhin kritisch begleitet werden. Gleiches gilt für die Weiterentwicklung der sektorenunabhängigen Fallpauschalen (Hybrid-DRGs). Auch hier fehlen konkrete Angaben zur Umsetzung dieses bislang nur schleppend in Gang gekommenen Versorgungs- und Vergütungsmodells.
- Veränderung des Honorarsystems kommt: Die angestrebte Veränderung des Honorarsystems im ärztlichen Bereich hat ihren Weg in den Koalitionsvertrag gefunden. Das Honorarsystem wird zur Reduzierung nicht bedarfsgerechter Arztkontakte durch Jahrespauschalen modifiziert. Der Quartalsbezug soll dabei flexibilisiert werden, um die Zahl nicht notwendiger Arzt-Patientenkontakte zu reduzieren und dadurch neuen Patienten einen besseren Zugang zu ermöglichen. Hier wird der Gesetzgeber gut beraten sein, wenn er Vorsorge dafür trägt, dass diese Änderungen nicht zu erheblichen Verwerfungen innerhalb der einzelnen Facharztgruppen führen. Hand in Hand gehen soll die Veränderung des Honorarsystems mit einer Stärkung der Kompetenzen der Gesundheitsberufe, insbesondere durch einen Ausbau der Weiterbildungsmöglichkeiten. Hiermit reagiert die Koalition auf die derzeitigen Begrenzungen in der ärztlichen Weiterbildung als eine Engstelle, die der Beseitigung der Ärztemangels entgegensteht.
- Stärkung der Länderbeteiligung und Entbudgetierung für benötigte Fachärzte: In den Zulassungsausschüssen soll die Länderbeteiligung durch Einräumung einer entscheidenden Stimme künftig gestärkt werden und jenen eine kleinteiligere Bedarfsplanung ermöglicht werden. Die damit verbundene Beeinträchtigung der funktionalen Selbstverwaltung war bereits in abgeschwächter Form Gegenstand des Koalitionsvertrags der Vorgängerregierung. Sie wirft indes die Frage auf, ob eine funktionale Selbstverwaltungseinrichtung durch eine unmittelbar staatliche Stelle jenseits ihrer Rechtsaufsichtsbefugnisse durch das entscheidende Stimmrecht ggf. fachlich kontrolliert bzw. gelenkt werden darf. Weniger konkret wird es mit Blick auf die geplante Entbudgetierung für benötigte Fachärzte in unterversorgten Gebieten. Die Möglichkeit der Entbudgetierung soll zunächst weiter geprüft werden. Konkreter wird es hingegen bzgl. des angedachten Ausgleichsmechanismus zwischen über- und unterversorgten Gebieten. Laut dem Koalitionsvertrag soll eine Überversorgung bei einer Quote von 120% angenommen werden. Auch hier ist zu beachten, dass die Abschläge nicht zu erheblichen Verwerfungen innerhalb der Ärzteschaft führen.
- Sozialversicherungspflicht von Ärzten im Bereitschaftsdienst sowie Notfall- und Rettungsdienstreform: Schwarz-Rot will eine gesetzliche Regelung schaffen, die die Sozialversicherungsfreiheit von Ärzten im Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigungen ermöglicht – ein Aspekt, der aufgrund der restriktiven BSG-Rechtsprechung hierzu in der letzten Legislaturperiode zu erheblicher Unruhe und Unsicherheit im KV-System geführt hat. Eine entsprechende Regelung war bereits im Kabinettsentwurf des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes (GVSG) enthalten, die es aber wegen des vorzeitigen Endes der Ampelkoalition nicht in die vom Bundestag verabschiedete Rumpfversion des Gesetzes geschafft hat. Ausgehend von den bisherigen Entwürfen sollen auch die in der Vergangenheit nicht realisierten Gesetze zur Notfall- und Rettungsdienstreform Realität werden. Die noch im Ergebnispapier befindliche Zielmarke von 100 Tagen fehlt nunmehr.
- Apotheken: Hinsichtlich des Themenbereichs Apotheke entspricht der Koalitionsvertrag weitestgehend dem Ergebnispapier. Der Apothekerberuf soll demnach künftig zu einem „Heilberuf“ weiterentwickelt werden, was zu Konflikten zwischen Apothekern und Vertragsärzten führen könnte. Bei den Vor-Ort-Apotheken setzen die Verhandlungspartner auf finanzielle Entlastung. Nullretaxationen aus formalen Gründen sollen abgeschafft werden. Dies deutet darauf hin, dass die Koalitionsparteien den Katalog an formalen Gründen, aus denen eine Retaxation schon gemäß § 129 Abs. 4d SGB V in der Fassung des ALBVVG ausgeschlossen ist, als nicht ausreichend zum Schutz der Apotheken vor Retaxationen erachten. Das Verbot von Skonti soll aufgehoben, das Apothekenpackungsfixum einmalig auf 9,50 Euro erhöht werden. Abhängig vom Versorgungsgrad, besonders in ländlichen Gebieten, ist sogar ein Anstieg auf bis zu 11,00 Euro möglich. Die Vergütung soll künftig zwischen den Apothekern und dem GKV-Spitzenverband ausgehandelt werden. Bürokratische Vorgaben, wie etwa Dokumentationspflichten, sollen gelockert werden. Ferner sollen Vorgaben für Vor-Ort- und Versandapotheken, insbesondere betreffend Kühlketten und Nachweispflichten, vereinheitlicht werden. Erhalten bleiben soll weiterhin das Fremdbesitzverbot, das eine Beteiligung an Apotheken und umsatzabhängige Vergütungen erheblich einschränkt.
- Krankenhausreform: Die bereits von der Vorgängerregierung begonnene Krankenhausreform soll bis zum Sommer 2025 stehen. Die Möglichkeit zur Schaffung von Ausnahmen zur Sicherstellung der Grundversorgung (Innere, Chirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe) und Notfallversorgung bleibt den Ländern erhalten. Überarbeitet werden soll die Definition der Fachkrankenhäuser, wobei nähergehende Angaben fehlen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Öffnungsmöglichkeiten die beabsichtigte strukturelle Qualitätsverbesserung durch Konzentration der Leistungen auf weniger Krankenhäuser relativiert, indem die Länder versuchen werden, möglichst am Status quo festzuhalten. Das System der belegärztlichen Versorgung soll dem Grunde nach beibehalten und nur punktuell verbessert werden. Die Lücke bei den Sofort-Transformationskosten der Krankenhäuser aus den Jahren 2022 und 2023 soll ebenso wie der bisher für die GKV vorgesehene Anteil für den Transformationsfonds aus dem neugeschaffenen Sondervermögen Infrastruktur finanziert werden. Jene Finanzierung tritt an die Stelle der bisher geregelten, verfassungsrechtlich hochumstrittenen hälftigen Finanzierung des Krankenhaus-Transformationsfonds aus dem Gesundheitsfonds, d.h. letztlich über die Beitragszahler. Die Zuweisung der Leistungsgruppen erfolgt zum 01.01.2027 auf Basis der 60 NRW-Leistungsgruppen zuzüglich der speziellen Traumatologie. Abhängig von der Evaluation können die Leistungsgruppen sowie die Anrechenbarkeit der Ärzte pro Leistungsgruppe (als Vollzeitäquivalent gelten 38,5 Stunden) noch angepasst werden. Auch hier bleibt abzuwarten, was dies für das mit der Krankenhausreform verfolgte Ziel bedeutet, eine qualitativ hochwertige Versorgung anzubieten. Der InEK-Grouper zu diesen Leistungsgruppen wird zur Abrechnung verwendet. Die Konvergenzphase wird von zwei auf drei Jahre verlängert. Das Jahr 2027 wird für alle Krankenhäuser als Referenz erlösneutral ausgestaltet. Anschließend soll die Vorhaltevergütung in zwei Schritten eingeführt werden.
- Pflegereform durch Bund-Länder-Kommission: Die ambitionierten Reformbestrebungen bei der Pflege bleiben auch nach Verabschiedung des Koalitionsvertrags vage. Wie der Mix aus kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen konkret aussehen soll, bleibt ungewiss. Klarheit schaffen soll eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Ministerebene unter Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände, die noch bis zum Jahresende 2025 Vorschläge für eine Strukturreform entwerfen soll. Die im Koalitionsvertrag aufgeführte Agenda (u. a. Bündelung und Fokussierung der Leistungen, Möglichkeiten zur Stärkung der pflegenden Angehörigen oder Begrenzung der pflegebedingten Eigenanteile) lässt vermuten, mit welcher „Mammutaufgabe“ jene Kommission betraut sein wird. Kurzfristig sollen, anknüpfend an die Entwürfe aus der vergangenen Legislatur, zudem Gesetze zur Pflegekompetenz, Pflegeassistenz und zur Einführung der „Advanced Practice Nurse“ finalisiert werden. Auch soll der „kleine Versorgungsvertrag“ rechtlich abgesichert werden. Auf die zeitliche Zielmarke von 100 Tagen wird nunmehr verzichtet.
- Bürokratieabbau und Digitalisierung im Gesundheitswesen: Die Koalitionäre streben einen Bürokratieabbau an. Ein konkretes Mittel ist die Einführung einer Bagatellgrenze von 300 Euro bei der Regressprüfung niedergelassener Ärzte, die ebenfalls schon im Kabinettsentwurf des GVSG enthalten war, aber dem vorzeitigen Ende der Ampelkoalition zum Opfer gefallen ist. Überdies wird ein Mehr an Digitalisierung im Gesundheitswesen angestrebt. So soll etwa noch in diesem Jahr eine stufenweise Ausrollung der elektronischen Patientenakte mit verpflichtender Nutzung und Sanktionen bei Nicht-Nutzung erfolgen. Geplant ist auch die Einführung einer „flächendeckenden Möglichkeit einer strukturierten Ersteinschätzung über digitale Wege in Verbindung mit Telemedizin“. Diese Formulierung könnte bei entsprechender Ausgestaltung auch eine KI-basierte Anamnese aufgrund von Angaben des Patienten als Regelleistung ermöglichen, wie sie von privaten Anbietern bereits heute angeboten wird.
- Gesundheitsforschung: In der klinischen Forschung sollen Hürden abgebaut und Regelungen mit anderen EU-Staaten harmonisiert werden, bspw. in der CAR-T-Zelltherapie. Zudem soll ein Registergesetz aufgesetzt und die Datennutzung beim Forschungsdatenzentrum Gesundheit verbessert werden. Zum Schutz sensibler Gesundheitsdaten sollen Verstöße hiergegen konsequent geahndet werden.
B. Fazit
Die Koalitionäre haben sich in Sachen Gesundheitspolitik für die nächsten vier Jahre zwar einiges vorgenommen, insbesondere die Einführung eines verbindlichen Primärarztsystems. Überraschende, innovative Ideen und konkrete Lösungsansätze enthält der Koalitionsvertrag im Hinblick auf das Gesundheitswesen allerdings kaum; ebenso wenig echte Ansätze einer grundlegenden Strukturreform. Die weiterhin offenen (und schwierigen) Fragen zum dauerhaften Erhalt der Finanzierbarkeit der GKV hat die Koalition noch nicht beantwortet, sondern erst einmal vertagt. Von den im Koalitionsvertrag enthaltenen Maßnahmen ist insgesamt vieles noch ungewiss, denn er enthält vor allem Gesetzesideen sowie Zielbeschreibungen und nur vereinzelt konkrete Vorhaben. Für alle Akteure im Gesundheitswesen empfiehlt sich deshalb ein genauer Blick auf die in der anlaufenden Legislaturperiode bevorstehenden Novellierungen. Das Team von Gleiss Lutz berät Sie dabei gerne.
