Healthcare und Life Sciences

EU-weite Erleichterungen für therapierelevante Produkte – Verschiebung der MDR auf den 26.05.2021

Beatmungsgeräte, Gesichtsmasken, Schutzanzüge, Schutzbrillen, Untersuchungshandschuhe – die kurzfriste Beschaffung dieser Produkte ist essentiell für die Behandlung Erkrankter und die Eindämmung des Corona-Virus. Die EU-Kommission hat den Mitgliedstaaten bereits empfohlen, dass sie für die dringend benötigten Produkte Ausnahmegenehmigungen erteilen, die ein Inverkehrbringen ohne Konformitätsbewertung ermöglichen. Am 3. April hat die Kommission einen Verordnungsentwurf veröffentlicht, mit der das Inkrafttreten der für die Medizintechnikindustrie komplexen neuen Medizinproduktverordnung 2017/745 um ein Jahr auf den 26.05.2021 verschoben wird. Die notifizierten bzw. benannten Stellen und die Marktüberwachungsbehörden sollen alle ihnen zur Verfügung stehenden Maßnahmen ergreifen, um die steigende Nachfrage nach Persönlicher Schutzausstattung (PSA) und Medizinprodukten im gesamten EU-Markt zu decken. Die Bundesstelle für Chemikalien hat zudem Ausnahmeregelungen für die Herstellung und den Vertrieb von Händedesinfektionsmitteln erlassen. Das Krisenmotto „Not kennt kein Gebot“ gilt gleichwohl nicht. Abstriche an die Sicherheit und Qualität der Produkte soll es nach den neuen Regelungen trotzdem nicht geben. Außerdem entfallen die Zölle bei Import dieser Produkte in die EU durch staatliche Stellen oder Hilfsorganisationen.

Hohes Schutzniveau bei PSA und Medizinprodukten

Die regulatorischen Anforderungen an Entwurf, Herstellung und Inverkehrbringen von Medizinprodukten sowie von persönlicher Schutzausrüstung („PSA“) sind u. a. durch die Medizinproduktrichtlinie (RL 93/42/EWG), die durch die Medizinproduktverordnung (VO (EU) 2017/745) ersetzt wird, und die PSA-Verordnung (VO (EU) 2016/425) unionsrechtlich weitgehend harmonisiert. So kann gewährleistet werden, dass dieselben grundlegenden Gesundheitsschutz-, Sicherheits- bzw. Leistungsanforderungen auf dem europäischen Binnenmarkt gelten.

Grundsätzlich führen Hersteller vor Inverkehrbringen von Medizinprodukten und PSA die unionsrechtlich hierfür vorgesehenen Konformitätsbewertungsverfahren – selbst oder mit der notifizierten Stelle – durch und bringen bei Einhaltung der grundlegenden Sicherheits- und Gesundheits- bzw. Leistungsanforderungen die CE-Kennzeichnung an. Greifen die Hersteller auf konkrete technische Lösungen zurück, die Teil von im Amtsblatt der europäischen Union veröffentlichten harmonisierten Normen sind, wird die Konformität der Medizinprodukte und PSA vermutet.

Medizinprodukte und PSA ohne CE-Kennzeichnung sind häufig Gegenstand von Marktüberwachungsverfahren durch die zuständigen Marktüberwachungsbehörden. Gelangen die Marktüberwachungsbehörden im Verlauf der Bewertung zu dem Ergebnis, dass die unionsrechtlichen Anforderungen nicht erfüllt werden, so fordern sie den betreffenden Wirtschaftsakteur auf eine der Art des Risikos angemessene Weise auf, Korrekturmaßnahmen zu ergreifen, um die Übereinstimmung der PSA mit diesen Anforderungen herzustellen, oder die PSA zurückzunehmen oder zurückzurufen.

Erleichterungen für Konformitätsbewertungs- und Marktüberwachungsverfahren

Um Lieferengpässe bei PSA und Medizinprodukten in der aktuellen Corona-Krise zu beseitigen, hat die EU-Kommission am 13. März 2020 aufgrund der akuten Probleme bei der Versorgung mit medizinischer Schutzausrüstung und Medizinprodukten eine Empfehlung verabschiedet, die am 16. März 2020 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlich wurde. Zudem hat die EU-Kommission am 3. April einen Verordnungsentwurf veröffentlicht, mit dem das Inkrafttreten der Medizinproduktverordnung – eigentlich für den 26. Mai 2020 vorgesehen – um ein Jahr auf den 26. Mai 2021 verschoben wird. So sollen Lieferengpässe und Versorgungsunterbrechungen vermieden werden. Als eine weitere kurzfristige Maßnahme, um die Deckung des akuten Bedarfs für Medizinprodukte zu gewährleisten, hat die EU-Kommission am 24. März 2020 weitere Beschlüsse über Aufnahme harmonisierter Normen für Medizinprodukte gefasst, an denen sich Hersteller orientieren können.

Alle relevanten Akteure und Behörden werden von der EU-Kommission dazu aufgefordert, die entsprechenden, ihnen im Rahmen der Konformitätsbewertungs- und Marktüberwachungsverfahren zur Verfügung stehenden Maßnahmen zu ergreifen, um die gesteigerte Nachfrage zu bedienen. Die Anforderungen an das allgemeine Gesundheits- und Sicherheitsniveau gelten jedoch fort. Im Einzelnen umfasst dies folgende Maßnahmen:

Beschleunigte Konformitätsbewertungsverfahren

Konformitätsbewertungsverfahren betreffend PSA sollen von den notifizierten Stellen vorrangig und zügig durchgeführt werden. Die Beschleunigung wird u.a. durch folgende Bemühungen erreicht:

  • Empfehlungen der WHO können als Referenz für andere technischen Lösungen als harmonisierte Normen herangezogen werden, sofern ein angemessenes Schutzniveau garantiert wird.
  • Akzeptieren notifizierte Stellen andere technische Lösungen, sollen sie unverzüglich die notifizierende Behörde und andere notfizierte Stellen über diese Möglichkeit in Kenntnis setzen, um deren unionsweite Akzeptanz zu erreichen.

Auch für Medizinprodukte sollen Konformitätsbewertungsverfahren künftig schneller und kostengünstiger möglich sein:

  • Ermöglicht wird die Genehmigung einer Ausnahme von dem Erfordernis eines Konformitätsbewertungsverfahren auf Antrag eines Herstellers, weil die Verwendung der dringend benötigten Medizinprodukte im Interesse des Gesundheitsschutzes liegt. Auf diese Weise können die Produkte auch bereits vor Abschluss eines Konformitätsbewertungsverfahrens in Verkehr gebracht werden, wenn die Medizinprodukte den grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen der Medizinproduktrichtlinie bzw. der Medizinprodukt-VO entsprechen.
  • Für Produkte, die bei Bekämpfung der Pandemie eine zentrale Rolle spielen, hat die EU-Kommission weitere harmonisierte Normen angenommen. Diese sind ausnahmsweise kostenfrei verfügbar: bitte klicken Sie hier. Hierzu zählen bspw. medizinische Gesichtsmasken und Desinfektionsgeräte. Sobald diese im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurden, wird bei Anwendung dieser Normen davon ausgegangen, dass die Produkte den regulatorischen Anforderungen an Medizinprodukte entsprechen.

Situationsangepasste Marktüberwachungsverfahren

Die zuständigen mitgliedstaatlichen Marktüberwachungsbehörden werden ebenfalls einbezogen, um die Verfügbarkeit von PSA und Medizinprodukten für einen angemessenen Schutz im Zusammenhang mit dem Corona-Virus sicherzustellen:

  • Es sollen Kapazitäten bei den Marktüberwachungsbehörden geschaffen werden, indem sich die nationalen Marktüberwachungsbehörden vorrangig auf nichtkonforme PSA oder Medizinprodukte konzentrieren, von denen eine schwere Gefahr für Gesundheit und Sicherheit der Benutzer ausgeht.
  • Selbst wenn die Konformitätsbewertungsverfahren einschließlich der Anbringung der CE-Kennzeichnung nicht vollständig im Einklang mit den harmonisierten Normen erfolgen, können die Marktüberwachungsbehörden die Bereitstellung auf dem europäischen Binnenmarkt für einen befristeten Zeitraum genehmigen.
  • Die EU-Kommission und die anderen Mitgliedstaaten sind unverzüglich von den Marktüberwachungsbehörden über die Bewilligung solcher befristeten Regelungen zu informieren.
  • Auch PSA oder Medizinprodukte ohne CE-Kennzeichnung können in Verkehr gebracht werden. Voraussetzung hierfür ist, dass die Produkte bewertet wurden und ausschließlich von den zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden zur Abgabe an medizinische Fachkräfte während der Corona-Pandemie beschafft werden. Wichtige Einschränkung: Es muss sichergestellt werden, dass derartige PSA und Medizinprodukte nicht über normale Vertriebswege an andere Abnehmer abgegeben werden können.
  • Das Inkrafttreten der MDR wird auf den 26.05.2021 verschoben, weil alle Marktakteure sich auf das Bereitstellen der dringend benötigten Medizinprodukte konzentrieren sollen und die komplexe Einführung der MDR mit diversen Durchführungsrechtsakten die Hersteller, Überwachungsbehörden und benannte Stellen in der gegenwärtigen Krise überfordern würde (siehe hier).

Nutzung bereits existierender unionsrechtlicher Ausnahmeregelungen

Auch auf nationaler Ebene nutzen die Behörden bereits bestehende Erleichterungen des Unionsrechts, um auf Lieferengpässe in der Corona-Krise zu reagieren: Angesichts der verstärkten Nachfrage nach Desinfektionsmittel hat die Bundesstelle für Chemikalien zwei Allgemeinverfügungen mit Ausnahmezulassungen für Händedesinfektionsmittel nach Art. 55 Abs. 1 der Biozidverordnung (VO (EU) Nr. 528/2012) erlassen. Die Allgemeinverfügungen vom 4. März 2020 und vom 20. März 2020 erweitern unter genauer Bestimmung des Abnehmerkreises (breite Öffentlichkeit bzw. berufsmäßige Verwender) einerseits den Herstellerkreis und andererseits die Bandbreite der zulässigen Rezepturen für Händedesinfektionsmittel.

Entfall von Zöllen auf Importe aus Drittstaaten

Am 7. April 2020 hat die EU-Kommission die Voraussetzungen für die in der Zollbefreiungsverordnung (VO (EG) Nr. 1186/2009) und in der MwSt.-Richtlinie (RL 2006/112/EG) vorgesehenen Befreiungen für Katastrophenopfer geschaffen. Zur Senkung der Kosten für in der Corona-Krise dringend benötigte Medizinprodukte und Schutzausrüstungen hat die Kommission beschlossen, dass für Einfuhren dieser Produkte aus Drittländern zwischen dem 30. Januar bis zum 31. Juli 2020 keine Zölle und keine Mehrwertsteuer anfallen. Voraussetzung ist allerdings die Einfuhr durch Hilfsorganisationen oder durch staatliche Stellen (bzw. in deren Auftrag) zu dem Zweck, diese Produkte kostenlos an Personen zu verteilen bzw. zur Verfügung zu stellen, die an COVID-19 erkrankt, davon bedroht oder an der Bekämpfung des Ausbruchs beteiligt sind.

Fazit

Die Bewältigung der Corona-Krise hängt von der schnellen und bedarfsdeckenden Bereitstellung von Medizinprodukten und PSA ab. Die EU-Kommission und die nationalen Behörden bemühen sich nach Kräften um eine Vereinfachung des Rechtsrahmens. Trotzdem bleibt die Herstellung epidemiologisch sicherer Schutzausstattung und komplexer Medizinprodukte wie Beatmungsgeräten eine qualitativ und technisch anspruchsvolle Aufgabe. Auch die in Teilen bereits erfolgte Umstellung von anderen Produktionszweigen, etwa in der Automobil- oder Textilindustrie, auf diese Produkte ist eine große Herausforderung für die Beteiligten. Insbesondere die EU-Kommission leistet hierzu jedoch einen begrüßenswerten Beitrag, indem sie die rechtlichen Anforderungen vereinfacht und das Inkrafttreten der neuen Medizinprodukteverordnung auf den 26.05.2021 verschiebt und damit die Medizintechnikindustrie von der Bürde befreit, neben der Bereitstellung der dringend benötigten Produkte auch noch ihre Betriebe und Produkte an die gestiegenen Anforderungen der neuen Medizinproduktverordnung anzupassen.

Sollten Sie konkrete Fragen haben oder Unterstützung bei der Anwendung der neuen Regeln benötigen, sprechen Sie uns jederzeit gerne an.

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