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Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. Februar 2025 zu der viel diskutierten Frage verhandelt, ob Gesellschaften gegen sie verhängte Kartellbußgelder von Geschäftsleitern im Wege der Organhaftung ersetzt verlangen können oder ob die Organhaftungsvorschriften wegen vorrangigen Unionsrechts eingeschränkt ausgelegt werden müssen. Der Bundesgerichtshof hat diese Frage dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zur Vorabentscheidung vorgelegt. Mit einer Entscheidung des EuGH dürfte nicht vor 2026 zu rechnen sein.
Hintergrund und bisheriger Verfahrensverlauf
Die Klägerinnen sind zwei konzernverbundene Unternehmen, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) und eine Aktiengesellschaft (AG). Der Beklagte war Geschäftsführer der GmbH und Vorstandsmitglied der AG. In beiden Funktionen beteiligte er sich nach den Feststellungen des Bundeskartellamts von 2002 bis 2015 an einem Kartell in der Stahlindustrie, bei dem die Kartellbeteiligten u.a. Absprachen zu Preisbestandteilen trafen. Das Bundeskartellamt hat gegen die klagende GmbH nach § 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB wegen Verstößen gegen §§ 1, 2 GWB und Art. 101 Abs. 1 AEUV ein Kartellbußgeld in Höhe von 4,1 Mio. € verhängt. Die GmbH verlangt Schadensersatz in dieser Höhe. Die AG, gegen die das Bußgeldverfahren eingestellt worden war, begehrt Schadensersatz für Aufklärungs- und Rechtsanwaltskosten, die durch das kartellrechtliche Ermittlungsverfahren entstanden sind. GmbH und AG verlangen die Feststellung, dass der Beklagte für aus dem Kartellrechtsverstoß resultierende Folgeschäden haftet.
Das Berufungsgericht – OLG Düsseldorf, Urteil vom 27. Juli 2023, VI-6 U 1/22 (Link zu beck-online) – hatte ebenso wie die Erstinstanz – LG Düsseldorf, Urteil vom 10. Dezember 2021, 37 O 66/20 (Link zu beck-online) – entschieden, dass das Bußgeld des Bundeskartellamts nicht ersatzfähig sei. Andernfalls würde der Zweck des Kartellbußgelds vereitelt. Mit der Geldbuße gegen die Gesellschaft solle gerade das Vermögen der Gesellschaft getroffen werden. Die Anwalts- und Ermittlungskosten seien als davon abhängiger Schadensposten ebenfalls nicht regressierbar. Die Klage hatte aber bislang insoweit Erfolg, als festgestellt wurde, dass der Beklagte zum Ersatz weiterer aus dem Kartellverstoß resultierender Schäden – insb. Kosten durch Schadensersatzklagen – verpflichtet sei.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Der Bundesgerichtshof hat mit Blick auf den Bußgeldregress folgende Entscheidung verkündet:
„Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat dazu ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gerichtet.
Nach § 43 Abs. 2 GmbHG und § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG haften Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder, die ihre Obliegenheiten verletzen, der Gesellschaft für den entstandenen Schaden. Die Beteiligung des Beklagten an dem nach Art. 101 AEUV verbotenen Preiskartell ist eine vorsätzliche Pflichtverletzung. Im Revisionsverfahren ist auch davon auszugehen, dass der Klägerin zu 1 infolge des Bußgelds ein Schaden entstanden ist. Allerdings könnte der Rückgriff auf das Vermögen des Geschäftsführers Sinn und Zweck der Verbandsbuße widersprechen. Dann könnte eine einschränkende Auslegung des § 43 Abs. 2 GmbHG geboten sein. Ob das der Fall ist, ist umstritten.
Für die Beantwortung dieser Frage ist auch erheblich, ob das Unionsrecht eine einschränkende Auslegung des § 43 Abs. 2 GmbHG und § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG gebietet. Die nähere Ausgestaltung der Geldbußen fällt zwar in die Kompetenz der Mitgliedstaaten. Nach der Rechtsprechung des EuGH haben die Mitgliedstaaten aber sicherzustellen, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Geldbußen gegen Unternehmen verhängen können, wenn diese vorsätzlich oder fahrlässig gegen Art. 101 AEUV verstoßen. Mit diesen Geldbußen sollen rechtswidrige Handlungen der betreffenden Unternehmen geahndet und sowohl diese Unternehmen als auch andere Wirtschaftsteilnehmer von künftigen Verletzungen der Wettbewerbsregeln des Unionsrechts abgeschreckt werden. Die danach gebotene Wirksamkeit von Geldbußen gegenüber Unternehmen könnte beeinträchtigt sein, wenn sich die Gesellschaft von der Bußgeldlast durch Rückgriff auf das Leitungsorgan vollständig oder teilweise entlasten könnte. Wie der EuGH zu erkennen gegeben hat, könnte eine Geldbuße sehr viel von ihrer Wirksamkeit einbüßen, wenn das betroffene Unternehmen berechtigt wäre, sie auch nur teilweise steuerlich abzusetzen. Daher stellt sich auch die Frage, ob die Abwälzung der Geldbuße des Unternehmens auf den Geschäftsführer nach Maßgabe gesellschaftsrechtlicher Vorschriften den Zweck der kartellrechtlichen Geldbuße beeinträchtigt.“
Weitere mündliche Erläuterungen des Bundesgerichtshofs
In der mündlichen Verhandlung hat der Kartellsenat als „vorläufige Einschätzung“ u. a. geäußert:
- Die Rechtsprechung deutscher Gerichte zur Beraterhaftung, zur Strafvereitelung und zur Erstattung der gegen einen Sportverein gerichteten Geldbuße von einem Zuschauer zeige, dass die Rechtsordnung einen Regress von Bußgeldern im Grundsatz nicht missbillige. Ein Regressverbot mit Bezug auf Kartellgeldbußen komme daher nur im Wege einer teleologischen Reduktion der Organhaftungsvorschriften in Betracht.
- Bei rein nationaler Betrachtung komme in Betracht, keine hinreichende Grundlage für eine teleologische Reduktion zu sehen. Das unionsrechtliche Effektivitätsprinzip könne aber gebieten, Gesellschaften den Regress einer gegen sie verhängten Kartellgeldbuße gegen ihre Geschäftsleiter zu verwehren.
- Eine Regressmöglichkeit wirke sich auf die abschreckende Wirkung von Kartellgeldbußen in größerem Maße aus als die steuerliche Abzugsfähigkeit einer Geldbuße. Nach dem EuGH sei eine Beeinträchtigung der praktischen Wirksamkeit aber schon bei steuerlicher Abzugsfähigkeit gegeben.
- Die Tatsache, dass die Geschäftsleiter in der Regel mit einer sog. D&O-Versicherung versichert werden, habe eher keine durchschlagende Bedeutung, weder für noch gegen einen Bußgeldregress.
Einordnung
- Die Regressfähigkeit der kartellrechtlichen Unternehmensgeldbuße ist in Literatur und unterinstanzlicher Rechtsprechung seit Jahren umstritten. Die Praxis hatte sich erhofft, dass der BGH diese Unsicherheit nun beendet. Aufgrund der Vorlage an den EuGH wird es weitere Monate, eher Jahre dauern, bis die Frage höchstrichterlich geklärt ist.
- Der Kartellsenat hat auf die EuGH-Rechtsprechung zur steuerlichen Abzugsfähigkeit verwiesen und der Vorsitzende des Kartellsenats hat in der mündlichen Verhandlung dazu geäußert, eine Regressmöglichkeit wirke sich auf die abschreckende Wirkung von Kartellgeldbußen in größerem Maße aus als die steuerliche Abzugsfähigkeit. Das legt nahe, dass aus Sicht des Kartellsenats ein Erst-Recht-Schluss dafür spricht, dass das Unionsrecht hinsichtlich eines Kartellbußgeldregresses eine Einschränkung der deutschen Organhaftung gebietet. Es bleibt aber abzuwarten, ob der EuGH den Effet Utile in den Vordergrund stellt und den Regress versagt.
- Der Vorsitzende des Kartellsenats hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass bei rein nationaler Betrachtung keine hinreichende Grundlage dafür bestehen könnte, den Bußgeldregress im Wege einer teleologischen Reduktion zu versagen. Das könnte so zu verstehen sein, dass der Kartellsenat den Innenregress eines Kartellbußgelds bei rein nationalen Sachverhalten ohne zwischenstaatliche Relevanz, in denen Art. 101 AEUV nicht verletzt ist und somit nur ein Verstoß gegen nationales Kartellrecht (§§ 1 ff. GWB) festgestellt wird, zulassen würde. Sofern der EuGH den Innenregress aus unionsrechtlichen Gründen versagt, könnte das dazu führen, dass der Innenregress bei Sachverhalten mit EU-Bezug versagt ist, bei rein nationalen Fällen aber offensteht. Die praktischen Auswirkungen dürften allerdings insofern begrenzt sein, als das Zwischenstaatlichkeitsmerkmal in Kartellverfahren sehr weit ausgelegt wird, so dass in den meisten Fällen Art. 101 AEUV neben §§ 1 ff. GWB einschlägig sein wird. Das Bundeskartellamt nennt meist Art. 101 AEUV parallel zu §§ 1 ff. GWB, wenn es ermittelt.
- Vorstände und Aufsichtsräte müssen die streitentscheidende Frage insbesondere im Rahmen ihrer Prüfung möglicher Schadensersatzansprüche gegen Mitglieder des jeweils anderen Organs gemäß der ARAG/Garmenbeck-Grundsätze berücksichtigen. Sie werden vorerst weiter damit umgehen müssen, dass höchstrichterlich nicht geklärt ist, ob kartellrechtliche Bußgelder regressierbar sind. Bei rein nationalen Fällen wird dabei künftig zu bewerten sein, ob die jetzige BGH-Entscheidung als hinreichende Grundlage dafür gesehen werden könnte, von einer Zulässigkeit des Kartellbußgeldregresses auszugehen. Bei Fällen mit EU-Bezug sollte das jeweils zuständige Organ den Eintritt der Verjährung verhindern, bis die Entscheidung des EuGH vorliegt.
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