Die Bundesregierung hat am 30. November 2022 beschlossen, aus dem Energiechartavertrag aussteigen zu wollen (Beitrag vom 1. Dezember 2022). Deutschland folgt damit dem Beispiel gleich einer Reihe von EU-Mitgliedsstaaten, die ebenfalls verkündet hatten, aus dem Energiechartavertrag aussteigen zu wollen, darunter Spanien, die Niederlande, Frankreich und Polen. Italien war bereits ausgestiegen. Hintergrund ist die Befürchtung, dass staatliche Maßnahmen, die sich nachteilig auf bestehende Investitionen in die konventionelle Energieerzeugung auswirken, Entschädigungs- oder Schadenersatzansprüche von Investoren auslösen und so einen Ausstieg von der Nutzung konventioneller Energie verzögern, jedenfalls aber kostspielig machen könnten. Der Energiechartavertrag stehe daher einem effektiven Klimaschutz entgegen.
Deutschland, Frankreich, Polen erklären Rücktritt aus dem Energiechartavertrag
Am 22. März 2023 gab das Sekretariat der Energiecharta bekannt, dass Deutschland, Frankreich und Polen formell ihren Rücktritt aus dem Energiechartavertrag erklärt haben. Der Rücktritt wird für Deutschland am 21. Dezember 2023, für Frankreich am 8. Dezember 2023 und für Polen am 29. Dezember 2023 wirksam. Die weiteren EU-Mitgliedstaaten, die öffentlich ihre Absicht bekundet hatten, aus dem Energiechartavertrag auszutreten, haben bisher keine formelle Rücktrittserklärung abgegeben (Stand 13. April 2023, vgl. Energy Charter Treaty).
Die Europäische Kommission hatte zwar zuvor hervorgehoben, dass die Reformen des Energiechartavertrags die Bedenken gegen den bestehenden Vertrag ausräumen würden. Der reformierte Vertragstext sollte eine eigenständige Bestimmung enthalten, in der die Rechte und Pflichten im Rahmen des Pariser Klimaabkommens bekräftigt werden würden, sowie einen “Flexibilitätsmechanismus“, der es den Vertragsparteien ermöglichen würde, den Schutz für Investitionen in fossile Brennstoffe in ihrem Hoheitsgebiet auszuschließen. Zudem betonte der Generalsekretär der Energiecharta, dass 76 % aller Investor-Staat-Fälle, die unter dem Energiechartavertrag eingereicht werden, Investitionen in erneuerbare Energien beträfen (vgl. Generalsekretär der Energiecharta vom 13. Februar 2023). Deutschland hielt dies aber nicht vom Rücktritt ab. Dieser entzieht perspektivisch Investitionen in erneuerbare Energien in Deutschland den völkerrechtlichen Investitionsschutz. Zudem verpasst Deutschland die Chance, den Reformprozess des Energiechartavertrags maßgeblich zu begleiten und im Sinne einer nachhaltigen Energiepolitik zu gestalten (Beitrag vom 1. Dezember 2022).
Gleichzeitig ist allerdings aus der Sicht von Investoren hervorzuheben, dass sich für bereits getätigte Investitionen trotz des Rücktritts Deutschlands aus dem Energiechartavertrag zunächst keine signifikanten Veränderungen ergeben. Nach der sunset clause (Artikel 47(3) des Energiechartavertrags) bleiben Investitionen, die zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Rücktritts unter dem Energiechartavertrag geschützt waren, nämlich noch weitere 20 Jahre lang durch den Energiechartavertrag geschützt.
Deutschland verweigert russischen Investoren Schutz aus Energiechartavertrag
Ferner hat sich Deutschland kürzlich auf Artikel 17 des Energiechartavertrags berufen, um Klagen russischer Investoren wegen der Maßnahmen, die als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine ergriffen wurden, vorzubeugen. Diese sog. denial of benfits clause erlaubt es Vertragsstaaten, den Investitionsschutz unter dem Energiechartavertrag unter bestimmten Bedingungen auszusetzen, so bspw. wenn Maßnahmen wie Sanktionen ergriffen wurden, die umgangen würden, wenn Investoren aus dem betreffenden Staat Investitionsschutz zukäme. Das Sekretariat der Energiecharta gab dazu am 17. März 2023 bekannt, dass Deutschland von seinem Recht Gebrauch mache, die Vorteile des Investitionsschutzes des Energiechartavertrags für jede juristische Person, die sich im Besitz von Bürgern oder Staatsangehörigen der Russischen Föderation befindet oder von diesen kontrolliert wird und keine substanzielle Geschäftstätigkeit ausübt, sowie für Investitionen von Investoren der Russischen Föderation, zu verweigern (vgl. Pressemitteilung des Sekretariats der Energiecharta). Auch die Ukraine hat sich am 18. August 2022 auf Artikel 17 des Energiechartavertrags berufen, um russischen Investoren den Schutz nach dem Energiechartavertrag zu versagen. Die Ukraine und Deutschland sind bislang (Stand 13. April 2023) die einzigen Staaten, die sich wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine auf die denial of benefits clause des Energiechartavertrags berufen haben.
Neue Risikoanalyse bestehender Investmentstrukturen?
Weiter schränken mehrere kürzlich ergangene Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) den durch den Energiechartavertrag vermittelten Investitionsschutz zumindest im intra-EU-Kontext ein. Dies lässt – auch hinsichtlich solcher Investitionen, die wegen der sunset clause trotz des Rücktritts Deutschlands auf absehbare Zeit geschützt bleiben – Rechtsschutzlücken für Investoren befürchten. Ausgehend von diesen Entscheidungen erscheint eine neue Risikoanalyse bestehender Investmentstrukturen angezeigt.
In Komstroy (vgl. EuGH, Urteil vom 2. September 2021 – Rs. C-741/19, Republik Moldau gegen Komstory LLC; hierzu Wilske/Ebert, IWRZ 2021, 281 f.; Ebert/Weyland, RIW 2022, 20) hat der EuGH seine Achmea-Rechtsprechung (vgl. EuGH, Urteil vom 6. März 2018 – Rs. C-284/16, Slowakische Republik gegen Achmea BV.) zu bilateralen intra-EU‑Investitionsschutzabkommen auf multilaterale Investitionsschutzabkommen wie den Energiechartavertrag ausgedehnt. In Achmea hatte der EuGH eine Schiedsgerichtsklausel in einem bilateralen intra-EU-Investitionsschutzabkommen für unionsrechtswidrig erklärt. Nach Komstroy sollen solche Streitbeilegungsmechanismen nunmehr auch in multilateralen Investitionsschutzabkommen hinsichtlich innereuropäischer Sachverhalte unanwendbar sein. In der PL Holdings-Entscheidung (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Oktober 2021 – C-109/20, Republik Polen gegen PL Holdings Sàrl.), die nur wenige Wochen nach Komstroy erging, erstreckte der EuGH seine Rechtsprechung auch auf ad hoc zwischen einem EU-Mitgliedstaat und einem EU-Investor abgeschlossene Schiedsvereinbarungen, die zu einer Umgehung der in Achmea aufgestellten Grundsätze führen könnten. Investitionsschiedsgerichte zeigten sich zwar zumindest bislang von den Entscheidungen des EuGHs unbeeindruckt und wiesen entsprechende Einwände gegen ihre Zuständigkeit zurück (vgl. Landesbank Baden-Württemberg v. Kingdom of Spain, ICSID-Verfahren Nr. ARB/15/45). Unlängst hat sich aber ein nach dem Energiechartavertrag konstituiertes Schiedsgericht erstmalig unter Verweis auf die zitierten EuGH-Entscheidungen für unzuständig erklärt: In dem SCC-Schiedsverfahren Green Power v. Spain mit Sitz in Stockholm, Schweden, hat das Schiedsgericht eine Schiedsklage dänischer Investoren als unzulässig abgewiesen (vgl. SCC-Schiedsverfahren Nr. 2016/135, Schiedsspruch vom 16. Juni 2022 (= SchiedsVZ 2022, 333 m. Anm. Ebert/Raynal)).
Die jüngste EuGH-Rechtsprechung und der Schiedsspruch in Green Power v. Spain geben Anlass zu einer (erneuten) Risikoanalyse bestehender Investmentstrukturen. Klar ist, dass ein strikter Präzedenzfall durch Green Power v. Spain nicht geschaffen wurde – schon deshalb nicht, weil Schiedsgerichte unter dem Energiechartavertrag nicht an die Entscheidung gebunden sind. Vor allem aber ist die Entscheidung stark von den Umständen des Einzelfalls geprägt. Das Schiedsgericht in Green Power v. Spain betonte, dass der Schiedsort in diesem Verfahren in einem EU-Mitgliedstaat belegen war und es aus diesem Grund Unionsrecht zu beachten habe (vgl. SCC-Verfahren Nr. 2016/135, Schiedsspruch vom 16. Juni 2022 Rn. 153 bis 172 (= SchiedsVZ 2022, 333 m. Anm. Ebert/Raynal). Es könnte daher empfehlenswert sein, einen Schiedsort in der EU zu vermeiden und stattdessen einen Schiedsort außerhalb der EU oder ein Schiedsverfahren unter der ICSID Convention zu wählen. So ließe sich vermeiden, dass Gerichte der EU-Mitgliedstaaten, die an die Rechtsprechung des EuGH gebunden sind, für Aufhebungsverfahren von Schiedssprüchen zuständig sind. Gegen einen ICSID-Schiedsspruch sind keine anderen Rechtsbehelfe statthaft als jene, die sich aus der ICSID Convention ergeben (vgl. KG, Beschluss vom 28. April 2022 – 12 SchH 6/21 = BeckRS 2022, 36382 Rn. 19 f. Siehe auch schon Ebert/Weyland, RIW 2022, 20, 24 f.).
Die Wahl eines Schiedsorts außerhalb der EU oder die Entscheidung für ein ICSID-Schiedsverfahren kann sich auch mit Blick auf eine spätere Vollstreckung eines etwaigen Schiedsspruchs als empfehlenswert erweisen. Die Rechtsprechung des EuGH kann sich nämlich dann noch auswirken, wenn ein EU-Investor einen Schiedsspruch gegen einen EU-Mitgliedstaat in einem Schiedsverfahren unter dem Energiechartavertrag erstritten hat. Innerhalb der EU wären nationale Gerichte an die Rechtsprechung des EuGH gebunden und könnten so Anerkennungs- und Vollstreckbarerklärungsanträge abweisen. Auch außerhalb der EU könnten sich EU-Investoren einem Einwand auf Grundlage der EuGH-Rechtsprechung ausgesetzt sehen. So hatte ein US-amerikanisches Gericht vor Kurzem die Anerkennung und Vollstreckung eines gegen Spanien in einem ECT-Schiedsverfahren in der Schweiz ergangenen Schiedsspruchs mit der Begründung versagt, zwischen Spanien und dem niederländischen Investor existiere aufgrund der EuGH-Rechtsprechung keine wirksame Schiedsvereinbarung (vgl. Entscheidung). Anders hat demgegenüber der High Court of Australia geurteilt und die Vollstreckung eines unter dem Energiechartavertrag nach der ICSID Convention ergangenen Schiedsspruchs ungeachtet der Rechtsprechung des EuGH zugelassen (vgl. Urteil des High Court of Australia). Auch mit Blick auf die spätere Vollstreckung eines etwaig erstrittenen Schiedsspruchs zeigt sich, dass die Wahl eines ICSID-Schiedsverfahrens je nach Sachverhaltsgestaltung empfehlenswert sein kann.
Neben diesen prozessualen Überlegungen könnte auch eine Restrukturierung getätigter Investitionen erwogen werden. Möglich wäre etwa die Gründung einer Tochtergesellschaft in einem Drittstaat, d.h. einen Nicht-EU-Mitgliedstaat wie beispielsweise im Vereinigten Königreich, um hierüber ein später eventuell angestrengtes Schiedsverfahren zu führen. Dies hätte zur Folge, dass prima facie kein intra-EU-Sachverhalt vorläge, so dass die Rechtsprechung des EuGH jedenfalls im Ansatz nicht einschlägig wäre. Bei diesen Restrukturierungsmaßnahmen sollten aber natürlich auch gesellschafts- und steuerrechtliche Aspekte im Blick behalten werden.