Energie & Infrastruktur

Deutschland will aus dem Energiechartavertrag aussteigen

Am 11. November 2022 hatten Bundestagsabgeordnete der Ampelkoalition mitgeteilt, dass Deutschland schnellstmöglich aus dem Energiechartavertrag aussteigen wolle.1 Am 30. November 2022 folgte dann der offizielle Beschluss der Bundesregierung, so dass Deutschland noch dieses Jahr vom Energiechartavertrag zurücktreten kann. Deutschland folgt damit dem Beispiel gleich einer Reihe von EU-Mitgliedsstaaten, die zuletzt ebenfalls verkündet hatten, aus dem Energiechartavertrag aussteigen zu wollen, darunter Spanien, die Niederlande, Frankreich und Polen. Italien ist bereits im Jahr 2016 vom Energiechartavertrag zurückgetreten.

 

Hintergrund

Der Energiechartavertrag trat 1998 in Kraft. Mehr als 50 Staaten und die EU sind Vertragsparteien. Er schützt Investitionen im Zusammenhang mit Wirtschaftstätigkeiten im Energiebereich in anderen Mitgliedsstaaten bzw. der EU und erlaubt den Investoren bei Verletzungen ihrer Rechte aus dem Energiechartavertrag ein internationales Schiedsgericht anzurufen und Schadensersatz zu verlangen.

Die Möglichkeit, Schadensersatz gegen einen Gaststaat aufgrund von Gesetzesänderungen oder Verwaltungsentscheidungen vor allem im Zusammenhang mit der Energiewende geltend zu machen, hat den Energiechartavertrag in den vergangenen Jahren zunehmend in die Kritik geraten lassen. Hintergrund ist die Befürchtung, dass Investoren, die in konventionelle Energieerzeugung investierten, vor internationalen Schiedsgerichten Schiedsklagen erheben, die für die jeweiligen Gaststaaten die Titulierung von Schadensersatzverpflichtungen in Milliardenhöhe zur Folge haben könnten. Der Energiechartavertrag stehe daher einem effektiven Klimaschutz entgegen, so die Kritiker.

 

Reformprozess des Energiechartavertrags

Auch ausgehend von dieser Kritik am Energiechartavertrag wurden im November 2017 Verhandlungen über seine Modernisierung aufgenommen. Diese endeten am 24. Juni 2022 mit einer grundsätzlichen Einigung der Vertragsstaaten. Am 22. November 2022 sollte die Konferenz der Vertragsstaaten über den Vorschlag abstimmen. Nach den Austrittsbekundungen verschiedener EU-Mitgliedsstaaten hatte die EU allerdings einen für den 16. November 2022 im Ausschuss der ständigen Vertreter angesetzten Abstimmungstermin abgesagt. Offenbar war nach den Austrittsankündigungen das Risiko einer Sperrminorität zu hoch. Bei der sodann am vergangenen Freitag angesetzten Abstimmung der EU-Botschafter der Mitgliedsstaaten kam die notwendige qualifizierte Mehrheit tatsächlich nicht zustande; Deutschland, Frankreich, Spanien und die Niederlande enthielten sich, was als Ablehnung gezählt wird. Die EU-Kommission forderte daraufhin, die Abstimmung über den Modernisierungsvorschlag von der Agenda der Konferenz der Vertragsstaaten des Energiechartavertrags am gestrigen Tag zu streichen – mit Erfolg.

Der Modernisierungsvorschlag sieht unter anderen einen „Flexibilitätsmechanismus“ vor, der es den Vertragsstaaten erlauben würde, den Schutz von Investitionen in fossile Brennstoffe in ihrem Hoheitsgebiet auszuschließen. Die EU und das Vereinigte Königreich haben in der Vergangenheit bereits angekündigt, gegebenenfalls von dieser Ausschlussmöglichkeit Gebrauch machen zu wollen. Andere Vertragsstaaten, darunter wohl nun auch Deutschland, scheinen den Reformprozess nicht mehr mittragen und stattdessen aus dem Energiechartavertrag aussteigen zu wollen. Ob der Reformprozess damit zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Abschluss kommen wird, bleibt abzuwarten, kann aber bezweifelt werden.

 

Folgen eines Austritts Deutschlands

Politisch wird die Ankündigung des Ausstiegs durch die Regierungsparteien in Deutschland mit dem notwendigen Schritt in Richtung Klimaschutz begründet und als Erfolg verbucht, ebenso z.B. auch in Frankreich. Dass es neben Schadensersatzklagen, die die konventionelle Energieerzeugung betreffen, natürlich auch (zunehmend) Schiedsklagen unter dem Energiechartavertrag gibt, die Investitionen in erneuerbare Energien betreffen, bleibt bei dieser Bewertung häufig außer Betracht. Beispiele dafür sind die sogenannten „solar claims“ gegen Spanien. Die Statistiken der Schiedsklagen unter dem Energiechartavertrag zeigen, dass dies keineswegs Einzelfälle sind, sondern zumindest die Mehrzahl der Schiedsverfahren unter dem Energiechartavertrag Investitionen in erneuerbare Energien betreffen. Perspektivisch werden mit dem Ausstieg aus dem Energiechartavertrag also nicht nur Investitionen in konventionelle, sondern auch in erneuerbare Energien dem völkerrechtlichen Investitionsschutz unter diesem Abkommen entzogen. Ein unilateraler Rücktritt Deutschlands vom Energiechartavertrag könnte sich somit zukünftig negativ auf das Investitionsklima für regenerative Energien auswirken.

 

Investitionsschutz für bestehende Investitionen bleibt erhalten

Für bestehende Investitionen dürfte sich ein Rücktritt unmittelbar nicht auswirken. Ein Rücktritt vom Energiechartavertrag setzt zunächst die schriftliche Mitteilung des Rücktritts durch den jeweiligen Mitgliedsstaat an den Verwahrer voraus (Art. 47 Abs. 1 Energiechartavertrag). Der Rücktritt wird grundsätzlich ein Jahr nach Eingang der Notifikation beim Verwahrer wirksam (Art. 47 Abs. 1, 2 Energiechartavertrag). Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem die sogenannte „sunset clause“, wonach die Bestimmungen des Energiechartavertrags für bereits vorgenommene Investitionen von dem Tag, an dem der Rücktritt der Vertragspartei von dem Vertrag wirksam wird, 20 Jahre lang weiter gelten. Mit anderen Worten: Investitionen, die zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Rücktritts unter dem Energiechartavertrag geschützt waren, bleiben dies auch noch weitere 20 Jahre lang. Unmittelbare Auswirkungen dürfte ein unilateraler Rücktritt Deutschlands oder anderer Vertragsstaaten vom Energiechartavertrag demnach nur für solche Investitionen haben, die nach Wirksamwerden des Rücktritts getätigt werden. Rechtsschutzmöglichkeiten für nach der Wirksamkeit eines unilateralen Rücktritts vorgenommene Investitionen bestünden nur vor staatlichen Gerichten des Gastgeberstaats und nach den jeweiligen anwendbaren nationalen Rechten.

 

Ausblick

Selbst wenn man also den angestrebten Ausstieg aus dem Energiechartavertrag als Erfolg für effektiven Klimaschutz betrachtet, wird dieser vorgebliche Erfolg nach dem jetzigen Stand der Dinge frühestens gegen Ende des Jahres 2043 umfänglich eintreten. Bis dahin bleibt es dabei, dass auch Investitionen in konventionelle Energien, die vor dem Rücktritt Deutschlands getätigt wurden, geschützt bleiben. Deutschland kann sich also noch lange Jahre Schiedsklagen auf Schadensersatz unter dem Energiechartavertrag ausgesetzt sehen, verpasst aber die Chance, den bereits angestoßenen Reformprozess des Energiechartavertrags maßgeblich zu begleiten und den völkerrechtlichen Investitionsschutz im Sinne einer nachhaltigen Energiepolitik weiterzuentwickeln.

Übersehen wird bei den Diskussionen um etwaige unilaterale Austritte europäischer Mitgliedstaaten auch, dass der Energiechartervertrag in den neunziger Jahren gerade auch vor dem Hintergrund des wachsenden Energiebedarfs Europas und der in den postsowjetischen Ländern vorhandenen Ressourcen geschlossen wurde. Das damals verfolgte Ziel der Versorgungssicherheit ist heute aktueller denn je. Der Energiechartervertrag könnte – nach Ende des Ukraine-Kriegs und für den Fall, dass es zu einer Wiederaufnahme von Wirtschaftsbeziehungen zu Russland kommt – ein wichtiges Instrument zum Schutz deutscher und europäischer Investitionen in Osteuropa und Russland sein und zur Wiederherstellung der Versorgungssicherheit beitragen.

 

1Einigung: Konkrete Weiterentwicklung der Ampel-Handelsagenda: Grüne im Bundestag (gruene-bundestag.de)

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