Energie & Infrastruktur

Rücktritt der EU vom Energiechartavertrag und Umsetzung der Komstroy-Rechtsprechung des EuGH

Die EU hat am 27. Juni 2024 ihren Rücktritt vom Energiechartavertrag erklärt. Gleichzeitig haben sich die EU und 26 EU-Mitgliedsstaaten auf den Abschluss einer Vereinbarung verständigt, wonach entsprechend der Komstroy-Entscheidung des EuGH die Bestimmungen des Energiechartavertrags zu Investor-Staat-Schiedsverfahren nicht auf intra-EU-Sachverhalte anwendbar sein sollen. Mit dem Rücktritt der EU vom Energiechartavertrag scheint nun ein Hindernis bei der Modernisierung des Energiechartavertrags überwunden, so dass zu erwarten ist, dass die Reformbemühungen neuen Auftrieb erhalten.

Zusammenfassung

  • EU erklärt Rücktritt vom Energiechartavertrag.
  • Der Rücktritt der EU wird nach einem Jahr wirksam. Bestehende Investitionen bleiben nach der sunset clause aber für weitere 20 Jahre geschützt.
  • EU-Mitgliedstaaten erklären, eine Einigung zur Auslegung des Energiechartavertrags schließen zu wollen, wonach der Energiechartavertrag nicht für intra-EU-Verfahren gelten solle und setzen damit die Komstroy-Rechtsprechung des EuGH um.
  • EU Rücktritt vom Energiechartavertrag könnte zum Wiederaufgreifen der Bemühungen zur Reform des Energiechartavertrags führen.

EU erklärt Rücktritt vom Energiechartavertrag

Am 27. Juni 2024 hat die belgische Energieministerin Tinne Van der Straeten in Vertretung für den Präsidenten des Europäischen Rats den Rücktritt der EU vom Energiechartavertrag notifiziert (siehe Pressemitteilung des Europäischen Rates vom 27. Juni 2024). Der Rücktritt wird mit Ablauf eines Jahres nach Eingang der Notifikation wirksam.

Wie bereits berichtet, hatte die EU-Kommission bereits am 7. Juli 2023 bekanntgegeben, dass sie den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten einen gemeinsamen, koordinierten Austritt aus dem Energiechartavertrag vorschlagen wird (dazu unser Beitrag vom 1. August 2023). Bis dahin hatte die EU als einer der Befürworter der Bemühungen zur Reform des Energiechartavertrags gegolten, und die EU-Kommission hatte dafür geworben, dass die EU-Mitgliedstaaten die von ihr vorgeschlagenen Änderungen des Energiechartavertrags annehmen und billigen mögen (dazu auch unser Beitrag vom 20. April 2023). Der Reformvorschlag hätte den Vertragsstaaten die Möglichkeit eröffnet, den Schutz selbst für bestehende Investitionen in fossile Brennstoffe nach Ablauf von 10 Jahren auszuschließen. Nachdem die überarbeitete Fassung des Energiechartavertrags nicht die erforderliche Zustimmung der EU-Mitgliedstaaten fand (dazu der Beschluss der Kommission vom 7. Juli 2023, C(2023) 4720 final, zuletzt abgerufen am 30. Juni 2024), konstatiert die EU-Kommission, dass die Beibehaltung des Status quo keine Option sei. Die Bestimmungen des Energiechartavertrags stünden mit dem Investitionsschutzkonzept der EU nicht in Einklang.

Am 1. März 2024 legte die EU-Kommission Entwürfe von Ratsbeschlüssen vor, die den Rücktritt der EU und von Euratom vom Energiechartavertrag vorsehen, gleichzeitig aber den EU-Mitgliedsstaaten, die unter dem Vorbehalt der Reformen nicht vom Energiechartavertrag zurücktreten wollen, die Möglichkeit einräumen, Vertragsstaaten des Energiechartavertrags zu bleiben. Beide Beschlussentwürfe wurden auf der Sitzung des Europäischen Rates am 30. Mai 2024 förmlich angenommen. 

Weiterhin bestehender Schutz für Investitionen aufgrund der sunset clause des Energiechartavertrags

Der von der EU erklärte Rücktritt vom Energiechartavertrag wird ein Jahr nach dem Erhalt der Notifikation durch den Depositar Portugal wirksam. Mit Wirksamwerden des Rücktritts können sich Investoren wegen neuer Investitionen gegenüber der EU nicht auf den Energiechartavertrag berufen.

Vor der EU hatten bereits mehrere EU-Mitgliedstaaten ihren Rücktritt vom Energiechartavertrag erklärt. Der Rücktritt von Frankreich wurde bereits zum 8. Dezember 2023 wirksam, der von Deutschland zum 20. Dezember 2023, der von Polen zum 29. Dezember 2023 und der von Luxemburg erst kürzlich zum 17. Juni 2024. Weitere durch Vertragsstaaten des Energiechartavertrags erklärte Rücktritte werden später dieses Jahr oder 2025 wirksam werden. So der Rücktritt von Slowenien, der zum 14. Oktober 2024 wirksam werden wird. Der Rücktritt von Portugal wird zum 2. Februar 2025 wirksam werden, der von Spanien zum 17. April 2025 und der des Vereinigten Königreichs zum 27. April 2025.

Zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der jeweiligen Rücktritte bereits bestehende Investitionen bleiben nach der sog. sunset clause in Artikel 47(3) des Energiechartavertrags noch für weitere 20 Jahre im Verhältnis zu den zurückgetretenen Vertragsstaaten durch den Energiechartavertrag geschützt (dazu unser Beitrag vom 20. April 2023 und unser Beitrag vom 1. August 2023).

Die EU-Kommission hatte dagegen bereits in ihrem Beschlussvorschlag für den Europäischen Rat vom 7. Juli 2023 die Auffassung vertreten, dass sie Artikel 47(3) des Energiechartavertrags sowie den Energiechartavertrag als solchen auf intra-EU-Sachverhalte für nicht anwendbar hält (Beschlussvorschlag der Kommission vom 7. Juli 2023, COM(2023) 447 final, zuletzt abgerufen am 30. Juni 2024). Das Risiko, dass Schiedsgerichte diese Auffassung zur Nichtanwendbarkeit des Energiechartavertrags auf intra-EU-Sachverhalte nicht teilen könnten, wollte sie mit einer für die Auslegung des Energiechartavertrags relevanten Einigung zwischen den europäischen Vertragsstaaten minimieren. Darin sollte klargestellt werden, dass das in Artikel 26 enthaltene Angebot auf Abschluss einer Schiedsvereinbarung nicht für intra-EU-Verfahren gilt (Beschlussvorschlag der Kommission vom 7. Juli 2023, COM(2023) 447 final, zuletzt abgerufen am 30. Juni 2024). Es ist jedoch fraglich, ob eine innereuropäische Einigung, d.h. eine Einigung nur eines Teils der Vertragsstaaten dafür ausreicht, da Artikel 31(3)(a) des Wiener Abkommens über das Recht der Verträge von „den Vertragsparteien“ spricht (dazu unser Beitrag vom 1. August 2023).

EU und EU-Mitgliedsstaaten vereinbaren Umsetzung der Komstroy-Rechtsprechung

Am 26. Juni 2024 haben die EU und 26 Mitgliedstaaten daher zeitgleich zum Rücktritt der EU vom Energiechartavertrag eine inter se-Erklärung unterschrieben, die einer inter se -Vereinbarung vorausgehen soll. Die 26 Mitgliedsstaaten paraphierten gleichzeitig die inter se -Vereinbarung, deren Text wortgleich zur inter se -Erklärung ist. Mit der Erklärung und der ergänzenden Vereinbarung soll die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Komstroy (EuGH, Entscheidung vom 2. September 2021, Az. C-741/19) umgesetzt und die Auslegung festgehalten werden, dass Artikel 26 des Energiechartavertrags nicht für intra-EU-Verfahren gelten soll. Schon jetzt heben Gerichte der EU-Mitgliedstaaten in intra-EU-Verfahren mit Schiedsort in der EU ergangene Schiedssprüche unter Verweis u.a. auf die Komstroy-Rechtsprechung auf. So hat erst kürzlich das schwedische Appellationsgericht Svea hovrätt am 28. Juni 2024 einen 2018 zugunsten von Investoren aus Luxemburg und Dänemark unter dem Energiechartavertrag wegen Investitionen in erneuerbare Energien gegen Spanien ergangenen Schiedsspruch aufgehoben (Svea hovrätt, Entscheidung vom 28. Juni 2024 – Az. T 1626-19, Foresight Luxembourg Solar 1 S.à.r.l., et al. v. Kingdom of Spain). Die Entscheidung ist dabei nicht die erste dieser Art. So hat der Svea hovrätt, soweit bekannt, mindestens bereits vier unter dem Energiechartavertrag ergangene Schiedssprüche unter Verweis u.a. auf die Komstroy-Rechtsprechung aufgehoben.

Nach der belgischen Energieministerin Tinne Van der Straeten sollen sowohl die Erklärung als auch die Vereinbarung für den Schutz der EU und deren Mitgliedstaaten wichtig sein, wenn es um intra-EU-Sachverhalte und intra-EU-Verfahren betreffende Vollstreckungsmaßnahmen vor Gerichten in Drittländern geht. So solle die wirksame Umsetzung der Komstroy-Entscheidung gewährleistet werden (siehe Pressemitteilung des Europäischen Rates vom 27. Juni 2024). Die EU-Mitgliedstaaten wollen damit ein bislang bestehendes und effizientes Instrument des Rechtsschutzes von Investoren in intra-EU-Investitionsstreitigkeiten endgültig ausschließen. Aus Sicht von Investoren unbefriedigend ist dabei aber, dass hierdurch entstehende Rechtsschutzlücken nicht gleichzeitig auf andere Weise geschlossen werden. Ein Verweis allein auf mitgliedstaatliche Gerichte jedenfalls ist angesichts teils bestehender Defizite bei rechtsstaatlichen Mindeststandards ungenügend (vgl. dazu den Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2023 der EU Kommission). 

Ob die übrigen Vertragsstaaten des Energiechartavertrags und Schiedsgerichte einer rein innereuropäischen Einigung eine den Energiechartavertrag auch für die übrigen Vertragsstaaten auslegende oder modifizierende Wirkung zuerkennen werden, kann bezweifelt werden (dazu bereits oben und unser Beitrag vom 1. August 2023). Das Schweizer Bundesgericht jedenfalls hat erst kürzlich mit deutlichen Worten festgehalten, dass es an die Komstroy-Rechtsprechung nicht gebunden ist und selbst keinen Konflikt zwischen EU-Recht und Artikel 26 des Energiechartavertrags, jedenfalls aber nach dem Völkerrecht keinen Vorrang des EU-Rechts erkennen kann (Schweizer Bundesgericht, Entscheid vom 3. April 2024, u.a. Rz. 7.8.2. - 4A_244/2023).

Nehmen die Bemühungen zur Reform des Energiechartavertrags nun neue Fahrt auf?

Gleichzeitig mit dem Rücktritt vom Energiechartavertrag haben die EU-Mitgliedstaaten den verbleibenden Mitgliedstaaten, d.h. den EU-Mitgliedsstaaten, die noch nicht ihren Rücktritt vom Energiechartavertrag erklärt haben und im Energiechartavertrag verbleiben wollen, die Möglichkeit eingeräumt, bei der Abstimmung auf der nächsten Energiechartakonferenz dessen Modernisierung zu unterstützen. Nach dem Europäischen Rat ist dies Teil des sog. „belgischen Fahrplans“ (“Belgian roadmap”), der Teil eines politischen Kompromisses ist und darauf abzielt, den wegen der fehlenden Zustimmung der EU bei den Reformbemühungen des Energiechartavertrags eingetretenen Stillstand zu überwinden (siehe Pressemitteilung des Europäischen Rates vom 27. Juni 2024). Den EU-Mitgliedsstaaten, soweit sie Vertragsstaaten des Energiechartavertrags bleiben möchten, soll so eine Zustimmung oder Enthaltung zu den Reformplänen ermöglicht werden. Dies ist zu begrüßen, da der „belgische Fahrplan“ so jedenfalls für Investitionen in die EU von Investoren außerhalb der EU eine Modernisierung des Energiechartavertrags erlaubt und so ggf. auch einen Ausschluss des Schutzes für bestehende Investitionen in fossile Brennstoffe nach Ablauf von 10 Jahren (und damit früher als nach einem Rücktritt, für den die sunset clause gilt).

Es ist zu erwarten, dass die Reformbemühungen auf der nächsten Energiechartakonferenz neuen Auftrieb bekommen. Der Generalsekretär der Energiecharta hatte die EU-Mitgliedsstaaten bereits im Juli 2023 aufgefordert, weiter an der Modernisierung des Energiechartavertrags mitzuwirken (siehe Erklärung des Generalsekretärs vom 11. Juli 2023). Der Weg dafür scheint nun bereitet.

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