EuGH, 14. September 2017 – C-168/16 und C-169/16, Sandra Nogueira u.a.
Mitglieder des Flugpersonals können in Rechtsstreitigkeiten über ihre Arbeitsverträge das Gericht des Ortes anrufen, von dem aus sie den wesentlichen Teil ihrer Verpflichtungen gegenüber ihrem Arbeitgeber erfüllen.
Die Kläger, sechs Arbeitnehmer der Fluggesellschaft Ryanair und des Unternehmens Crewlink erhoben 2011 Klage vor dem belgischen Cour du travail de Mons. Crewlink ist auf die Einstellung und Schulung von Flugpersonal für Fluggesellschaften spezialisiert. Die zwischen Crewlink und den Arbeitnehmern geschlossenen Arbeitsverträge sahen eine Abordnung zu Ryanair vor. Sämtliche Arbeitsverträge unterlagen irischem Recht und enthielten eine Gerichtsstandvereinbarung, wonach nur die irischen Gerichte zuständig waren. Ferner sahen die Verträge vor, dass die Leistungen an Bord von in Irland eingetragenen Flugzeugen erbracht würden und daher als in Irland erbracht anzusehen seien. Die Kläger waren jedoch in Flugzeugen tätig, die in Charleroi, Belgien, stationiert waren. Die Arbeitsverträge der Kläger legten daher Charleroi als Heimatbasis („home base") fest. Die Kläger waren arbeitsvertraglich verpflichtet, nicht mehr als eine Stunde entfernt vom Flughafen Charleroi zu wohnen. Der Arbeitstag aller Kläger begann und endete in Charleroi. Die Kläger zogen vor das belgische Arbeitsgericht, da sie der Meinung waren, auf ihre Arbeitsverträge sei belgisches Recht anwendbar, und klagten verschiedene Beträge wie Zulagen und Gehaltsrückstände ein. Nachdem das Arbeitsgericht die Klagen wegen Unzuständigkeit abgewiesen hatte, legte das Berufungsgericht dem EuGH die Frage vor, wie der Begriff „Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet" im Rahmen der Prüfung der Zuständigkeit eines Gerichts auszulegen sei.
Vorab stellte der EuGH zunächst klar, dass eine Gerichtsstandklausel, die mit Arbeitnehmern im Rahmen eines Arbeitsvertrags vor der Entstehung von Rechtsstreitigkeiten vereinbart werde, einem Arbeitnehmer nicht entgegengehalten werden könne. Im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung stellte der EuGH sodann fest, dass der „Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet" dahingehend auszulegen sei, dass es um das Gericht des Ortes gehe, an dem die Verpflichtung, die Arbeit zu erbringen, zu erfüllen sei. Um festzustellen, welcher Ort dies genau sei, seien eine Reihe von Indizien heranzuziehen, so unter anderem, der Ort, an dem der Arbeitstag in der Regel beginne und ende, der Ort, an dem die Arbeitnehmer ihre Anweisungen erhielten, der Ort der Stationierung der Flugzeuge oder die Verpflichtung der Arbeitnehmer, in der Nähe dieses Ortes zu wohnen. Arbeitnehmer müssten nach dem einschlägigen EU-Recht vor einem Gericht klagen können, das für sie gut erreichbar sei. Die im Vertrag vorgesehene „Heimatbasis" sei ebenfalls ein Indiz. Jedoch sei der Begriff nicht so auszulegen, wie vom Arbeitsgericht Mons angefragt, nämlich allein wie der gleichlautende Begriff in einer die Zivilluftfahrt betreffenden Unionsverordnung.
Gleiss Lutz Kommentar
Das Urteil schiebt der Praxis einen Riegel vor, Gerichtsstände für Arbeitnehmer nach dem Willen des Arbeitgebers festzulegen. Dem Arbeitnehmer steht es offen, an dem Ort gegen seinen Arbeitgeber zu klagen, an dem er gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Das Urteil könnte erhebliche Auswirkungen auf die Bestimmung der Sozialversicherungspflicht der Arbeitnehmer haben, nicht nur für Fluggesellschaften, sondern beispielsweise auch für den Bereich des LKW-Fernverkehrs. In diesem Sinne ermittelt die Staatsanwaltschaft Koblenz bereits gegen Ryanair wegen des Verdachts auf Steuer- und Sozialleistungsbetrug.