Das Einheitliche Patentgericht (EPG) hat sich rasch als beliebter Gerichtsstand in Europa etabliert. Der EPG-Report von Gleiss Lutz berichtet regelmäßig über diejenige EPG-Rechtsprechung, die für die Herausbildung des neuen einheitlichen Patentrechts und Patentprozessrechts in Europa am bedeutsamsten ist.
Im November 2024 hat das EPG-Berufungsgericht die Streitfrage geklärt, ob „alte“ nationale Verfahren der Rücknahme eines Opt-out entgegenstehen, und erstinstanzliche Entscheidungen geben eine erste Orientierung dazu, wie das EPG mit zentralen materiell- und prozessrechtlichen Fragen, wie z. B. Äquivalenz, FRAND und Präklusion, umzugehen gedenkt.
Unser EPG-Report 12|24 behandelt folgende Themen:
- „Opt-in“ trotz nationalen Verfahren
- Äquivalente Patentverletzung
- FRAND-Einwand
- Verspätung im Nichtigkeitsverfahren
- Verhältnismäßigkeitseinwand – Berücksichtigung von Drittinteressen
- Veröffentlichungsanordnung
- Beschränkte Geltendmachung eines Patents im einstweiligen Rechtsschutz
- Aussetzung wegen parallelem Einspruchsverfahren
- Prozesskostensicherheit
Opt-in trotz „alten“ nationalen Verfahren
Das EPG-Berufungsgericht hat entschieden, dass ein nationales Verfahren, das vor dem Start des EPG anhängig gemacht worden ist, den Patentinhaber nicht daran hindert, ein zuvor erklärtes Opt-out zu widerrufen (Art. 83 Abs. 4 EPGÜ), um das Patent dann vor dem EPG geltend zu machen (Entscheidung vom 12. November 2024 – UPC_CoA_489/2024). Dies gilt unabhängig davon, ob das nationale Verfahren vor dem Start des EPG bereits abgeschlossen worden ist oder ob es nach dem Start des EPG weiterhin anhängig ist. Nur Verfahren, die ab dem 1. Juni 2023 vor einem nationalen Gericht anhängig gemacht wurden, führen zum „Lock-out“ eines Patents für das ein Opt-out erklärt wurde. Ein Patentinhaber, der im nationalen Verfahren verloren hat, kann also sein Glück vor dem EPG nochmals bzw. auch versuchen, sofern er nicht denselben Streitgegenstand dem EPG zur Entscheidung vorlegt, s. Art. 29 bis 32, 71c(2) EuGVVO (s. dazu Berufungsgericht, (Entscheidung vom 17. September 2024 – UPC_CoA_227/2024).
Äquivalente Patentverletzung
Die Lokalkammer Den Haag hat ein Prüfungsprogramm für äquivalente Patentverletzungen vorgeschlagen, das folgende vier Fragen umfasst (Anordnung vom 22. November 2024 – UPC_CFI_239/2023):
- Technische Äquivalenz: Löst die Abwandlung (im Wesentlichen) dasselbe Problem, das die patentierte Erfindung löst, und erfüllt sie in diesem Zusammenhang (im Wesentlichen) dieselbe Funktion?
- Angemessener Schutz für den Patentinhaber: Ist die Ausdehnung des Schutzes des Patentanspruchs auf das Äquivalent angemessen für einen fairen Schutz des Patentinhabers in Anbetracht seines Beitrags zum Stand der Technik und ist es für den Fachmann anhand der Patentschrift offensichtlich, wie das äquivalente Element (zum Zeitpunkt der Verletzung) anzuwenden ist?
- Angemessene Rechtssicherheit für Dritte: entnimmt der Fachmann dem Patent, dass der Umfang der Erfindung weiter ist als das, was wortsinngemäß beansprucht ist?
- Ist das mutmaßlich verletzende Produkt neu und erfinderisch gegenüber dem Stand der Technik?
Die zweite und dritte Frage gibt jeweils im Wesentlichen nur die Zielvorgaben wieder, die das Protokoll zu Art. 69 Abs. 1 EPÜ formuliert. Dabei beschränkt die zweite Frage sich nicht auf die Anforderung, dass das abweichende Mittel für die Fachperson naheliegend war, sondern formuliert die zusätzliche Voraussetzung, dass die Ausdehnung des Schutzes im Hinblick auf den Beitrag der Erfindung zum Stand der Technik angemessen ist. Die dritte Frage lässt offen, was nötig ist, damit die Fachperson Abwandlungen in den Schutzbereich einbezieht bzw. unter welchen Voraussetzungen Abwandlungen nicht einbezogen werden können. Die Entscheidungsbegründung enthält keine näheren Ausführungen dazu, wie die Lokalkammer zu dem von ihr vorgeschlagenen Prüfprogramm gelangt ist und lässt offen, welche Kriterien zur Beantwortung der vier Fragen heranzuziehen sind. Insoweit lässt die Entscheidung dem Rechtsanwender viel Spielraum, das allgemein gehaltene Prüfprogramm in der Praxis anzuwenden.
Die Lokalkammer Mannheim hat sich zu den Anforderungen an den kartellrechtlichen FRAND-Einwand geäußert, der dem Erlass eines gerichtlichen Verbots entgegenstehen kann (Entscheidung vom 22. November 2024 – UPC_CFI_210/2023). Die Einhaltung des vom EuGH aufgestellten wechselseitigen Pflichtenprogramm zur Verhandlung einer fairen, angemessenen und nicht-diskriminierenden (FRAND) Lizenz (Urteil vom 16. Juli 2015 – Huawei v. ZTE) sei stets im Gesamtbild des vorgerichtlichen Verhaltens der Parteien zu würdigen.
Auf den initialen Hinweis des Patentinhabers muss der Nutzer lediglich sein initiales Interesse an weiteren Verhandlungen mitteilen. In den sich dann anschließenden Verhandlungen müssen sich beide Seiten konstruktiv verhalten. Der SEP-Inhaber hat ein Lizenzangebot zu unterbreiten, dessen FRAND-Konformität er begründen muss. Er darf sich nicht auf bloße mathematische Berechnungen beschränken. Der Nutzer hat Beanstandungen konkret vorzutragen und – je nach Fortschritt der Verhandlungen – zu plausibilisieren. Diese vorgerichtlichen Beanstandungen des Implementierers seien vom EPG als Grundlage für eine etwaige Überprüfung des Lizenzangebots des Patentinhabers auf FRAND-Konformität heranzuziehen.
Die Entscheidung der Lokalkammer spricht dafür, dass das EPG sich – anders als die deutschen Gerichte – einer Prüfung der FRAND-Konformität eines unterbreiteten Angebots nicht verschließen wird.
Verspätung im Nichtigkeitsverfahren
Die Zentralkammer Paris hat strenge zeitliche Anforderungen an die Darlegungslast aufgestellt (Entscheidung vom 27. November 2024 – UPC_CFI_308/2023): Alle Nichtigkeitsgründe und der gesamte Stand der Technik zur Begründung einer fehlenden Neuheit oder erfinderischen Tätigkeit müssen bereits in der Nichtigkeitsklage vorgetragen werden. Sachverhalt und Beweise sollen so bereits nach der ersten Schriftsatzrunde feststehen (front loaded system).
Neue Nichtigkeitsgründe und weiterer Stand der Technik können zu einem späteren Zeitpunkt nur dann ins Verfahren eingeführt werden, wenn das EPG dies auf begründeten Antrag hin zulässt. Dies setzt voraus, dass das neue Vorbringen auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht früher möglich war und den Beklagten in seiner Verfahrensführung nicht unangemessen behindert (R 263.2 VerfO). Eine Zulassung kommt etwa in Betracht, wenn erst die Verteidigungsargumente des Beklagten Anlass für den Vortrag neuer Tatsachen gibt. Besteht nicht einmal ein (enger) Zusammenhang zu den Argumenten des Beklagten, werden die neuen Angriffe bzw. Dokumente vom EPG nicht berücksichtigt.
Es bleibt abzuwarten, ob das Berufungsgericht diese eher strenge Präklusion bestätigen wird. Bis zu einer Klärung durch das Berufungsgericht sollte die Nichtigkeitsklage vorsorglich möglichst umfassend begründet und eher ein Angriff zu viel als zu wenig aufgenommen werden. Müssen neue Entgegenhaltungen oder Argumente erst in der Replik oder noch später ins Nichtigkeitsverfahren eingeführt werden, sollte stets konkret begründet werden, welcher Vortrag der Beklagten Anlass für den neuen Vortrag gibt.
Verhältnismäßigkeitseinwand – Berücksichtigung von Drittinteressen
Die Lokalkammer München hat entschieden, dass Drittinteressen, z. B. Patienteninteressen, einer Unterlassungsverfügung entgegenstehen können (Entscheidung vom 15. November 2024 – UPC_CFI_15/2023). Das EPG könne Drittinteressen im Rahmen seiner Ermessensentscheidung über ein gerichtliches Verbot (Art. 63 Abs. 1 EPGÜ) berücksichtigen.
Insoweit kann es eine Rolle spielen, ob sich der Verletzer beim Patentinhaber um eine Lizenz bemüht und erforderlichenfalls ein Zwangslizenzverfahren eingeleitet hat. Die gerichtliche Würdigung in einem parallelen Zwangslizenzverfahren sei ein starkes Indiz für das Vorhandensein von relevanten Drittinteressen einerseits und eine Lizenzwilligkeit des Verletzers andererseits. Wurde kein Zwangslizenzverfahren angestrengt, spreche dies gegen die Lizenzwilligkeit des Verletzers, was wiederum gegen eine Einschränkung des gerichtlichen Verbots spräche. Allerdings könne das Gericht Drittinteressen auch bei fehlender Lizenzwilligkeit des Verletzers berücksichtigen.
Im entschiedenen Fall beurteilt die Lokalkammer München den Verletzer als lizenzunwillig. Die Lokalkammer München stellt jedoch relevante Patienteninteressen fest und schränkt die Unterlassungsanordnung daher trotzdem (geringfügig) ein: Patentverletzende Implantate, deren Implantation in Patienten am Tag der Entscheidung der Lokalkammer München bereits terminiert waren, sind von der Unterlassungsanordnung ausgenommen.
Veröffentlichungsanordnung
Nach Auffassung der Lokalkammer Den Haag kann der Verletzer verpflichtet werden, auf seiner Homepage einen Text für die Dauer von einem Monat zu veröffentlichen, der die Nutzer der Website darüber informiert, dass das EPG den Verletzer wegen der Patentverletzung verurteilt hat, der Verletzer die Verletzungsform nicht weiter vertreiben wird und Kunden die Verletzungsform gegen Kaufpreis-/Kostenerstattung an den Verletzer zurückgeben können (Anordnung vom 22. November 2024 – UPC_CFI_239/2023).
Die niederländische Lokalkammer stützt ihre Veröffentlichungsanordnung auf Art. 64 und Art. 80 EPGÜ und bejaht die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, weil der Verletzer ein ehemaliger Lizenznehmer des Patentinhabers ist. Es erscheint eher zweifelhaft, dass das EPG-Berufungsgericht sich die Rechtsauffassung der Lokalkammer zu eigen machen wird. Weder Art. 64 EPGÜ noch Art. 80 EPGÜ sehen die von der Lokalkammer angeordnete Veröffentlichung einer „Selbstanzeige“ vor, der eine gehörige Prangerwirkung zukommt. Die abweichende Rechtsaufassung der Lokalkammer Düsseldorf, wonach eine Veröffentlichung der Verletzungsentscheidung aufgrund ihres Bestrafungscharakters nur verhältnismäßig ist, wenn die anderweitigen Anordnungen (Unterlassung, Auskunft, Rückruf, etc.) den gebotenen Schutz des Klägers ausnahmsweise nicht ausreichend gewährleisten, dürfte eher in Einklang mit dem EPGÜ stehen (Anordnung vom 31. Oktober 2024 – UPC_CFI_373/2023).
Beschränkte Geltendmachung eines Patents im einstweiligen Rechtsschutz
Die Lokalkammer Mailand hat entschieden, dass Hilfsanträge auf Beschränkung des Patents im einstweiligen Verfügungsverfahren unzulässig seien (Anordnung vom 22. November 2024 – UPC_CFI_400/2024). Es sei auch unzulässig, den Verfügungsantrag nachträglich auf eine anfänglich nur hilfsweise geltend gemachte, eingeschränkte Anspruchsfassung umzustellen.
Nach Ansicht der Lokalkammer Mailand ist dieses prozessuale Vorgehen mit der Natur des summarischen Verfahrens auf einstweiligen Rechtschutz und dem Prinzip der prozessualen Waffengleichheit unvereinbar. Ein (Hilfs-)Antrag auf Beschränkung des Patents sei nur zur Verteidigung gegen eine Nichtigkeitswiderklage (R. 30.2 VerfO) oder eine Nichtigkeitsklage (R. 50.2 VerfO) zulässig. Im einstweiligen Verfügungsverfahren könne das EPG jedoch nicht über den Rechtsbestand des Verfügungspatents entscheiden. Diese Rechtauffassung hatte zuvor bereits die Lokalkammer Lissabon in einem obiter dictum geäußert (Anordnung vom 15. Oktober 2024 – UPC_CFI_317/2024).
Die Frage, ob es zulässig ist, einen Verfügungsantrag von Anfang an auf eine eingeschränkte Anspruchsfassung zu stützen, hat die Lokalkammer Mailand nicht entschieden. Die Lokalkammer München sieht die beschränkte Geltendmachung eines Patents im einstweiligen Verfügungsverfahren als zulässig an. Die Frage der ausreichenden Sicherheit des Rechtsbestandes des Patents sei jedoch gleichwohl im Hinblick auf die erteilte, nicht-beschränkte Fassung des Patents zu beurteilen (Anordnung vom 10. Oktober 2023 – UPC_CFI_17/2023).
Aussetzung wegen parallelem Einspruchsverfahren
Solange ein Verletzungsverfahren nicht entscheidungsreif ist, steht es nach Auffassung des EPG-Berufungsgerichts im Ermessen des EPG, ob es ein Verletzungsverfahren im Hinblick auf ein parallel beim EPA anhängiges Einspruchsverfahren (Art. 99 ff. EPÜ) aussetzt; zwingend sei dies nicht (Entscheidung vom 21. November 2024 – UPC_CoA_511/2024). Art. 33 Abs. 10 EPGÜ gibt dem EPG die Möglichkeit, ein Verfahren auszusetzen, wenn eine „rasche“ bzw. „kurzfristige“ Entscheidung des EPA zu erwarten ist (s. auch R. 295(a) VerfO).
Nach Auffassung des Berufungsgerichts betrifft dies nicht nur den Erlass einer rechtskräftigen Entscheidung des EPA, sondern auch Fälle, in denen die erwartete Entscheidung noch anfechtbar sein wird. Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung seien die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen, z.B. das Stadium, in dem sich Verletzungsklage und Einspruchsverfahren jeweils befinden, und die Wahrscheinlichkeit, dass das Patent widerrufen wird. Berücksichtigt werden kann auch, ob die anstehende Entscheidung des EPA anfechtbar ist und ob eine solche Anfechtung mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.
Ist das Verletzungsverfahren entscheidungsreif, richtet sich die Aussetzung nach anderen Vorschriften der Verfahrensordnung (R.295(g) i.V.m. R 118 VerfO). Vorgesehen ist hier u.a. dass das EPG ein Verletzungsverfahren aussetzen muss, wenn es der Ansicht ist, dass die maßgeblichen Patentansprüche durch eine kurzfristig zu erwartende unanfechtbare Entscheidung des EPA mit hoher Wahrscheinlichkeit für nichtig erklärt werden (R.118.2(b) VerfO).
Prozesskostensicherheit
Nach R. 158 kann das EPG zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens auf begründeten Antrag einer Partei anordnen, dass die andere Partei angemessene Sicherheit für die möglichen Kosten der antragstellenden Partei zu leisten hat. Das Berufungsgericht hat entschieden, dass es für eine solche Anordnung inhaltlich (nur) darauf ankommt, ob eine Vollstreckung auszugleichender Kosten mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten verbunden (nicht zwingend: unmöglich) ist (Entscheidung vom 29. November 2024 – UPC_CoA_548/2024).
Die Beweislast für das Vorliegen unzumutbarer Schwierigkeiten trägt die antragstellende Partei. Beruft sie sich auf Schwierigkeiten bei einer etwaigen Auslandsvollstreckung, muss sie sowohl zum maßgeblichen ausländischen Recht als auch zu seiner Anwendung vortragen. Beruft sie sich auf mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit des Gegners, ist nur dessen eigene Leistungsfähigkeit maßgeblich. Es hilft dem Gegner nicht, wenn er einer finanziell soliden Unternehmensgruppe angehört. Etwas anderes mag gelten, wenn eine Garantie von einem konzernangehörigen Unternehmen übernommen wurde. Die bloße Tatsache, dass der Gegner ein kleines oder mittelständisches Unternehmen ist, reicht für sich genommen nicht, Zweifel an der finanziellen Leistungsfähigkeit zu begründen.
Unbeachtlich ist auch, ob der Gegner leistungswillig ist oder versuchen wird, eine Vollstreckung zu vermeiden (solange eine Vollstreckung ohne unangemessene Schwierigkeiten möglich bleibt). Es kommt auch nicht darauf an, ob zu erwarten ist, dass der Gegner die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. Für die Entscheidung über die Sicherheitsleistung muss das EPG die Erfolgsaussichten der Klage nicht berücksichtigen.
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