
Das BVerfG hob mit Beschluss vom 11. Dezember 2024 – Az. 1 BvR 1109/21,1 BVR 1422/23, der jüngst veröffentlicht wurde, zwei Urteile des BAG auf, weil es die Tarifautonomie der beklagten Arbeitgeber durch die Urteile verletzt sah. Das BAG hatte die in einigen Tarifverträgen vorgesehene Differenzierung zwischen (unregelmäßiger) Nachtarbeit und (regelmäßiger) Nachtschichtarbeit für verfassungswidrig gehalten und klagenden Nachtschichtarbeitern daher die höheren Zuschläge für unregelmäßige Nachtarbeit zugesprochen. Das BVerfG erkennt nicht nur sachliche Gründe für die tarifliche Differenzierung zwischen Nacht- und Nachtschichtarbeit an, sondern erteilt darüber hinaus der Praxis des BAG eine Abfuhr, bei unzulässiger Ungleichbehandlung durch Tarifnormen grundsätzlich eine „Anpassung nach oben“ vorzunehmen.
Sachverhalt
Zwei Arbeitgeber wendeten sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen zwei Urteile des BAG (Urteil vom 9. Dezember 2020 – 10 AZR 335/20 und Urteil vom 22. März 2023 – 10 AZR 600/20). Das BAG hatte die Unternehmen jeweils zur Zahlung von tariflichen Nachtarbeitszuschlägen in Höhe von 50 % des Stundenlohns verurteilt, obwohl die klagenden Arbeitnehmer keine (unregelmäßige) Nachtarbeit, sondern (regelmäßige) Nachtschichtarbeit geleistet hatten. Die zugrundeliegenden Tarifverträge enthielten jeweils eine Regelung, nach der für Nachtarbeit ein Zuschlag von 50 % des Stundenlohns, für Nachtschichtarbeit aber nur ein Zuschlag von 25 % des Stundenlohns zu gewähren war. Das BAG sah die geringere Zuschlagsregelung für Nachtschichtarbeit als mit dem Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar an. Sachliche Gründe für die Differenzierung zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit bestünden nicht. Gründe, die keinen Niederschlag im Text der Tarifverträge gefunden haben, seien von vorneherein nicht zu berücksichtigen. Rechtsfolge des Verstoßes gegen den Gleichheitssatz sei eine „Anpassung nach oben“ mit der Folge, dass auch für die benachteiligte Nachtschichtarbeit die höheren Nachtarbeitszuschläge zu zahlen seien. Nur so könne die festgestellte Ungleichbehandlung beseitigt werden.
Die Entscheidung
Die Verfassungsbeschwerden der Arbeitgeber hatten vor dem Ersten Senat des BVerfG Erfolg. Das Gericht entschied am 11. Dezember 2024, dass das BAG mit den angegriffenen Urteilen die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) der Unternehmen verletzt hatte und verwies die Verfahren zur erneuten Entscheidung an das BAG zurück. Am 19. Februar 2025 veröffentlichte das BVerfG die Begründung des Beschlusses. Im Einzelnen:
Differenzierung zwischen Nacht- und Nachtschichtarbeit zulässig
Die tarifliche Differenzierung zwischen Nacht- und Nachtschichtarbeit ist nach dem BVerfG zulässig. Zwar müssten die Tarifparteien bei der Normsetzung den Grundsatz der Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG beachten. Die gerichtliche Kontrolle sei aber bei Regelungen im Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, wie Regelungen über Zuschläge, bei denen spezifische Schutzbedarfe oder Anhaltspunkte für eine Vernachlässigung von Minderheitsinteressen nicht erkennbar sind, auf eine Willkürkontrolle beschränkt. Dies habe das BAG verkannt. Die von den Unternehmen vorgebrachten sachlichen Gründe für die unterschiedlich hohen Zuschläge, insbesondere die höhere soziale Belastung durch Nachtarbeit aufgrund der schlechteren Planbarkeit im Vergleich zur Nachtschichtarbeit, seien sachlich einleuchtend. Dies sei nach dem eingeschränkten Prüfungsmaßstab ausreichend. Insbesondere dürften die Gerichte die tariflichen Regelungen nicht daraufhin überprüfen, ob sie die „beste“ oder „vernünftigste“ Lösung seien.
Anhaltspunkt im Tarifvertrag nicht erforderlich
Anders als das BAG berücksichtigt das BVerfG auch sachliche Gründe, die nicht im Tarifvertragstext aufgeführt oder angedeutet waren. Zur gegenteiligen Praxis des BAG nimmt das BVerfG klar Stellung: Das BAG „verengt […] die Prüfung bereits zu Unrecht auf nachweisbar von den Tarifvertragsparteien bezweckte Aspekte und verkennt, dass hier auch objektiv erkennbare und nachvollziehbare Gründe […] zu beachten sind“.
„Anpassung nach oben“ fehlerhaft
Das BAG habe auch die Folgen einer Verletzung der Tarifautonomie nicht ausreichend beachtet: Eine „Anpassung nach oben“, mit der das BAG den lediglich in Nachtschicht tätigen Klägern die höheren Nachtarbeitszuschläge zuerkannt hatte, verletze die Arbeitgeber in ihrer Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG. Auch im bilateralen Streit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen die Gerichte die Koalitionsfreiheit der Tarifvertragsparteien und die sich daraus ergebenden Handlungsspielräume beachten. Den Tarifvertragsparteien sei daher die Möglichkeit zur tarifvertraglichen Korrektur von unwirksamen Tarifnormen zu geben (primäre Korrekturkompetenz der Tarifvertragsparteien). Zur „Anpassung nach oben“ seien die Gerichte nur dann berechtigt, wenn das Entschließungs- und Auswahlermessen der Tarifparteien auf eine einzige Gestaltungsmöglichkeit, namentlich diese „Anpassung nach oben“ reduziert sei. Als Beispiel für Korrekturmöglichkeiten nennt das BVerfG insbesondere die umfassende tarifliche Neuregelung, wobei hinsichtlich einer Neuregelung mit Wirkung für die Vergangenheit ein Vertrauensschutz der Tarifnormunterworfenen zu beachten sein kann.
Gleiss Lutz kommentiert
Die Entscheidung des BVerfG stärkt die Tarifautonomie erheblich und ist sehr zu begrüßen. Nachdem das BAG unterschiedliche Höhen von Zuschlägen für Nacht- und Nachtschichtarbeit über Jahrzehnte hinweg gebilligt hatte, sah der Zehnte Senat des BAG die Differenzierung ab dem Jahr 2018 als mit dem Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar an und ordnete eine „Anpassung nach oben“ an. Arbeitgeber diverser Branchen waren damit gezwungen, die meist wesentlich höheren Nachtarbeitszuschläge an den sehr viel größeren Kreis der Nachtschichtarbeiter zu bezahlen. Das BAG hatte die richterliche Kontrolle von Tarifnormen damit erheblich ausgeweitet. Obwohl das BAG nach wie vor betonte, dass die autonom von den Tarifparteien verhandelten Normen nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegen, hatte es in der Sache eine detaillierte Prüfung vorgenommen und damit die Autonomie der Tarifparteien verfassungswidrig übergangen. Eine „Anpassung nach oben“ dürfte nun auch in anderen tariflichen Anwendungsfällen auf den Prüfstand kommen. Ob die Entscheidung des BVerfG darüber hinaus zu einem großzügigeren Maßstab der Rechtsprechung bei der Beurteilung von Tarifverträgen führen wird, bleibt abzuwarten.
