Arbeitsrecht

BAG: Neue Vorlage an den EuGH zu den Folgen fehlerhafter Massenentlassungsanzeigen

Der Sechste Senat des BAG legt dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob der Zweck der Massenentlassungsanzeige erfüllt und eine Sanktion entbehrlich ist, wenn die Arbeitsagentur eine obj. fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nicht beanstandet und sich somit als ausreichend informiert ansieht (Vorlagebeschluss vom 23. Mai 2024 – 6 AZR 152/22 (A)).

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung im Rahmen einer Insolvenz. Die beklagte Luftfahrtgesellschaft leitete zunächst das Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 KSchG bei der Personalvertretung ein. Zwei Wochen später beschloss die Beklagte die Einstellung des Geschäftsbetriebs mit sofortiger Wirkung. Der mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestellte Insolvenzverwalter erstattete kurz darauf eine Massenentlassungsanzeige (die “MEA”) bei der Agentur für Arbeit, ohne eine abschließende Stellungnahme der Personalvertretung beizufügen oder den Stand der Beratungen darzulegen. In der MEA wurde lediglich auf die Aufnahme und die Fortsetzung des Konsultationsverfahrens hingewiesen. Die Agentur für Arbeit bestätigte den Eingang der MEA mit dem Hinweis, dass sie „ausschließlich“ den Empfang der Unterlagen bestätige. Daraufhin kündigte der Insolvenzverwalter im Rahmen einer Massenentlassung auch das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin. 

Die Entscheidung 

Der Sechste Senat des BAG setzte das Revisionsverfahren aus und legte dem EuGH drei Fragen zur Auslegung der den §§ 17 ff. KSchG zugrundeliegenden Massenentlassungsrichtlinie („MERL“) vor:

  1. Ist der Zweck der Massenentlassungsanzeige erfüllt und somit eine Sanktion entbehrlich, wenn die nationale Arbeitsagentur eine – objektiv fehlerhafte – Massenentlassungsanzeige nicht beanstandet und sich damit als ausreichend informiert betrachtet, um ihren Aufgaben innerhalb der Fristen des Art. 4 RL 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) nachkommen zu können? Gilt dies jedenfalls dann, wenn die Erreichung des Zwecks von Art. 3 MERL durch eine nationale arbeitsförderungsrechtliche Vorschrift sichergestellt ist und/oder die nationale Arbeitsagentur eine Pflicht zur Amtsermittlung hat?

    Der Sache nach möchte der Sechste Senat wissen, ob der Zweck des Anzeigeverfahrens erreicht ist, wenn die Arbeitsagentur die MEA prüft, nicht beanstandet und so zu erkennen gibt, dass sie sich für ausreichend informiert hält, um ihrer aktiven Rolle im Anzeigeverfahren zu genügen. Sollte die Frage zu bejahen sein, bedürfe es laut dem Sechsten Senat im nationalen Recht keiner Sanktionierung einer fehlerhaften MEA. Der Senat verdeutlicht dabei, dass er auch den für die Bundesagentur geltenden Amtsermittlungsgrundsatz sowie bestimmte Regelungen des Rechts der Arbeitsförderung (§§ 2, 38 Abs. 1 und 1a SGB III) für grundsätzlich geeignet hält, den Zweck des Anzeigeverfahrens zu erfüllen.
     
  2. Sofern die erste Frage verneint wird: Kann der Zweck von Art. 3 MERL noch erfüllt werden, wenn eine fehlerhafte oder gänzlich fehlende Massenentlassungsanzeige nach Zugang der Kündigung korrigiert bzw. ergänzt oder nachgeholt werden kann?

    Der zweiten Vorlagefrage liegen die grundsätzlichen Zweifel des Sechsten Senats an der vom Zweiten Senat (Beschluss vom 1. Februar 2024 – 2 AS 22/23 (A)) angesprochenen Möglichkeit zugrunde, dass Fehler in der MEA noch korrigiert oder die MEA ganz nachgeholt werden kann. Die Zweifel beruhen darauf, dass die MEA vor Zugang der Kündigung erstattet werden müsse, sich bei einer späteren Korrektur regelmäßig die Tatsachenverhältnisse geändert haben, die Dauer der Entlassungssperre bis zur ordnungsgemäßen Erstattung der MEA unbestimmt lang wäre, dadurch in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit eingegriffen werde und es für eine solche Rechtsfolge keine Rechtsgrundlage im Unionsrecht gebe.
     
  3. Wenn bei einer fehlerhaften oder fehlenden Massenentlassungsanzeige die Entlassungssperre nach Art. 4 I MERL die Sanktion für Fehler bei der Anzeige sein sollte, welcher Anwendungsbereich verbleibt dann insoweit noch für Art. 6 MERL?

    Die dritte Vorlagefrage beruht auf dem Verständnis des Sechsten Senats, dass Art. 4 Abs. 1 MERL keine Sanktion für Fehler im Anzeigeverfahren enthalte, da andernfalls Art. 6 MERL keine eigene Bedeutung mehr hätte. Art. 6 MERL könne nach Ansicht des Sechsten Senats dahingehend verstanden werden, dass bis der Gesetzgeber eine Sanktion für Fehler im Anzeigeverfahren festlege, die Rechtsprechung tätig werden müsse. Als Sanktion komme z.B. eine zeitlich begrenzte Hemmung der Kündigungsfrist in Betracht, bei fehlerhafter MEA um einen und bei gänzlich fehlender MEA um zwei Monate.

Gleiss Lutz kommentiert

Hintergrund der Vorlageanfrage beim EuGH ist, dass der Sechste Senat nicht an der bisherigen Rechtsprechung festhalten will, nach der Fehler im Anzeigeverfahren gem. §§ 17 ff. KSchG zur Nichtigkeit der Kündigung gem. § 134 BGB führen. Die hierzu vom Sechsten an den für Kündigungen außerhalb der Insolvenz zuständigen Zweiten Senat gestellte Divergenzanfrage (Vorlagebeschluss vom 14. Dezember 2023 – 6 AZR 157/22 (B) (Beitrag vom 31. Januar 2024) ließ der Zweite Senat unbeantwortet und legte dem EuGH mehrere Fragen zu den Rechtsfolgen bei Fehlern im Anzeigeverfahren vor (Vorlagebeschluss vom 1. Februar 2024 – 2 AS 22/23 (A); Az. beim EuGH C-134/24) (Beitrag vom 15. Februar 2024). Nunmehr legt der Sechste Senat dem EuGH selbst, sich teilweise mit den Vorlagefragen des Zweiten Senats überschneidende, Fragen zur Vorabentscheidung vor. Hierdurch will der Sechste Senat eine Beantwortung der Fragen durch den EuGH sicherstellen, da er an der Vorlageberechtigung des Zweiten Senats zweifelt. Dieser sei nicht zur Vorlage berechtigt gewesen, weil er dem EuGH Fragen zu einem Rechtsstreit vorgelegt habe, der beim Sechsten Senat anhängig war.

Hintergrund dieses Vorgehens sind die abweichenden Ansichten der Senate: Nach Ansicht des Sechsten Senats wirken sich Fehler im Anzeigeverfahren grds. nicht auf die Wirksamkeit der Kündigung aus. Der Zweite Senat ist der Ansicht, dass die Kündigung bei Fehlen einer MEA grds. nicht „unrettbar” unwirksam ist, jedoch erst im Anschluss an die Nachholung der MEA wirksam wird und die Entlassungssperre des § 18 KSchG in Gang setzt. Der Sechste Senat hat mit der hiesigen Vorlage nun eine weitere Option auf das Tableau gebracht, bei der die Kündigung wirksam bleiben, die Kündigungsfrist bei fehlerhafter MEA aber um einen und bei fehlender MEA um zwei Monate gehemmt werden soll. Einigkeit besteht zwischen den Senaten zumindest darüber, dass Fehler im Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 KSchG weiterhin die Nichtigkeit der Kündigung gem. § 134 BGB nach sich ziehen sollen.

Der Sache nach ist es u.E. zutreffend, dass Fehler im Anzeigeverfahren nicht mehr zur unheilbaren Unwirksamkeit der Kündigung führen sollten. Darüber scheinen sich Sechster und Zweiter Senat wohl im Grundsatz einig zu sein. Wie das Sanktionsregime jedoch zukünftig im Einzelnen ausgestaltet wird, hängt von den mit Spannung zu erwartenden Antworten des EuGH ab. Sollten sich Sechster und Zweiter Senat im Anschluss an die Beantwortung der Vorlagefragen nicht auf eine Linie einigen können, müsste eine Entscheidung durch den Großen Senat des BAG herbeigeführt werden. Wir werden Sie auch dazu auf dem Laufenden halten.

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