Arbeitsrecht

BAG: Rechtsprechungsänderung im Sanktionsregime bei fehlerhaften Massenentlassungsanzeigen? Vorlage an den EuGH

Der Sechste Senat des BAG hält Kündigungen im Rahmen von Massenentlassungen trotz Verstößen gegen Anzeigepflichten für wirksam. Er hat deshalb beim Zweiten Senat des BAG angefragt, ob dieser an der bisherigen gegenteiligen Rechtsprechung festhalte. Der Zweite Senat setzt das Vorlageverfahren aus und legt dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor (Beschluss vom 1. Februar 2024 – 2 AS 22/23 (A)).

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung. Gestritten wird insbesondere darüber, ob die Kündigung gem. § 134 BGB nichtig ist, weil die Beklagte vor ihrer Erklärung keine sog. Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit erstattet hatte, obwohl dies gemäß § 17 KSchG erforderlich gewesen wäre. Vor dem Arbeitsgericht und dem LAG Hamburg unterlag die Beklagte. Nachdem der Sechste Senat des BAG das Verfahren zunächst ausgesetzt hatte, um die Antwort des EuGH auf die Vorlagefrage in einem ähnlich gelagerten Verfahren (BAG, Vorlagebeschluss vom 27. Januar 2022 – 6 AZR 155/21 (A)) abzuwarten, beabsichtigt er nun seine Rechtsprechung zu ändern und hat dazu im Dezember beim Zweiten Senat angefragt, ob dieser an der bisherigen Rechtsprechung festhalte (Vorlagebeschluss vom 14. Dezember 2023 – 6 AZR 157/22 (B), Beitrag vom 31. Januar 2024). 

Die Entscheidung

Der Zweite Senat des BAG setzt das Anfrageverfahren aus und legt dem EuGH Fragen zur Auslegung der den §§ 17 ff. KSchG zugrundeliegenden Massenentlassungsrichtlinie („MERL“, RL 98/59/EG) vor. Der Zweite Senat stellt folgende Fragen:

  • Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) dahin auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist? 
    Sofern das bejaht wird:
  • Setzt das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraus, sondern muss diese den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügen?
  • Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, eine solche mit der Folge nachholen, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?
  • Sofern die erste und die zweite Frage bejaht werden:
    Ist es mit Art. 6 MERL vereinbar, wenn das nationale Recht es der zuständigen Behörde überlässt, für den Arbeitnehmer unanfechtbar und für die Gerichte für Arbeitssachen bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?

Gleiss Lutz kommentiert

Von den Antworten des EuGH auf die Vorlagefragen des Zweiten Senats wird die weitere Konturierung eines etwaigen “neuen” Sanktionsregimes bei fehlerhaften Massenentlassungsanzeigen abhängen. Dass der Zweite Senat beim EuGH anfragt, spricht nach unserer Einschätzung dafür, dass er nicht vollumfänglich an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten will. Kern der Vorlagefragen ist Art. 4 Massenentlassungsrichtlinie, der durch § 18 KSchG ins deutsche Recht umgesetzt wird. Nach § 18 Abs. 1 KSchG werden nach § 17 KSchG anzuzeigende Entlassungen vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige bei der Agentur nur mit deren Zustimmung wirksam. Der Sechste Senat des BAG war insbesondere davon ausgegangen, dass § 18 KSchG nicht das „Ob“, sondern nur das „Wie“ von Kündigungen regele. Die Agentur für Arbeit entscheide über die Dauer der Sperrfrist, nicht aber über die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige oder sogar der Kündigung. Er hielt insbesondere eine unionskonforme Auslegung des § 18 KSchG dahin, dass die Kündigung nichtig ist, wenn keine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige erfolgt ist, weder für geboten noch möglich. Zwar sehe Art. 4 Abs. 1 Massenentlassungsrichtlinie vor, dass Massenentlassungen frühestens 30 Tage nach Eingang der Massenentlassungsanzeige wirksam werden können, es sei jedoch offenkundig im Sinne eines acte éclairé, dass Art. 4 Abs. 1 der Massenentlassungsrichtlinie „in keinem Fall eine Sanktion entnommen werden kann“.

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