Schwangeren Arbeitnehmerinnen muss eine angemessene Frist für die Erhebung einer Kündigungsschutzklage eingeräumt werden. Die Zwei-Wochen-Frist für die nachträgliche Zulassung einer Kündigungsschutzklage (§ 5 Abs. 3 KSchG) erscheint dem EuGH dafür zu kurz.
Sachverhalt
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit Schreiben vom 6. Oktober 2022 mit Wirkung zum 21. Oktober 2022. Bei der Klägerin wurde am 9. November 2022 ärztlich eine Schwangerschaft in der siebten Woche festgestellt. Hierüber unterrichtete die Klägerin einen Tag später die Beklagte. Mit Schreiben vom 13. Dezember 2022 reichte sie beim vorlegenden Arbeitsgericht Mainz Klage gegen ihre Kündigung mit der Begründung ein, dass sie zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung schwanger gewesen sei. Das Arbeitsgericht setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die Zwei-Wochen-Frist für die nachträgliche Zulassung einer Kündigungsschutzklage aus § 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 KSchG mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn eine Frau von ihrer Schwangerschaft erst nach Ablauf der dreiwöchigen Klagefrist aus § 4 S. 1 KSchG erfährt.
Entscheidung des EuGH
Der EuGH hat die Vorlagefrage in seinem Urteil (vom 27. Juni 2024 – C-284/23) dahingehend beantwortet, dass er die Zwei-Wochen-Frist aus § 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 KSchG für nicht vereinbar mit Art. 10 und 12 Richtlinie 92/85/ EWG (Mutterschutz-RL) hält. Dies begründet er wie folgt:
- Aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz folge, dass die Ausübung von unionsrechtlich verliehenen Rechten nicht praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert werden dürfe. Im Interesse der Rechtssicherheit können allerdings angemessene Ausschlussfristen für die Geltendmachung von Rechten (Rechtsverfolgung) festgesetzt werden.
- Trotz des Interesses an der Rechtssicherheit dürfen die Ausschlussfristen es schwangeren Arbeitnehmerinnen demgegenüber aber nicht übermäßig erschweren, ihre Rechte aus dem ihnen einen besonderen Schutz verleihenden Kündigungsverbot des Art. 10 Mutterschutz-RL durchzusetzen.
- Aus einer Betrachtung der deutschen Verfahrensmodalitäten der §§ 4 und 5 KSchG schließt der EuGH, dass diese nicht mit dem Effektivitätsgrundsatz und den durch die Mutterschutz-RL verliehenen Rechten vereinbar sein könnten:
- Erstens stelle die Zwei-Wochen-Frist für die nachträgliche Zulassung einer Kündigungsschutzklage (§ 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 KSchG) vor dem Hintergrund der Situation, in der sich die Frau zu Beginn der Schwangerschaft befinde, eine besonders kurze Frist dar.
- Zweitens sei die Zwei-Wochen-Frist auch kürzer als die ordentliche, dreiwöchige Frist zur Erhebung einer Kündigungsschutzklage (§ 4 S. 1 KSchG). Eine schwangere Arbeitnehmerin, die unverschuldet erst nachträglich von ihrer Schwangerschaft erfahre, verfüge damit über eine erheblich kürzere Frist, als eine schwangere Arbeitnehmerin, die zum Kündigungszeitpunkt Kenntnis von ihrer Schwangerschaft hatte.
- Drittens erscheine der Beginn der Zwei-Wochen-Frist für die nachträgliche Klagezulassung aus § 5 Abs. 3 KSchG nicht eindeutig, da er auf den Zeitpunkt der „Behebung des Hindernisses“ abstelle. Dies könne dazu beitragen, die Wahrnehmung der Rechte aus der Mutterschutz-RL zu erschweren.
- Viertens sei das deutsche System besonders komplex, weil die gekündigte schwangere Arbeitnehmerin, neben der Zwei-Wochen-Frist für die nachträgliche Klagezulassung, zusätzlich dem Arbeitgeber die Schwangerschaft unverzüglich – und damit im Rahmen einer weiteren Frist sowie gegenüber einem anderen Erklärungsempfänger – mitteilen muss.
- Aus diesen Gesichtspunkten schließt der Gerichtshof, dass die Zwei-Wochen-Frist für die nachträgliche Klagezulassung zu Nachteilen zu führen scheine, die gegen den Effektivitätsgrundsatz und somit gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Schutzes der durch die Mutterschutz-RL gewährten Rechte verstoßen können. Ob dies tatsächlich der Fall ist und ein Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz vorliegt, überlässt der EuGH einer abschließenden Prüfung durch das vorlegende Arbeitsgericht.
Gleiss Lutz kommentiert
Die Entscheidung des EuGH kommt nicht überraschend. Sie steht im Einklang mit der Rechtsprechung in der Rechtssache Pontin (EuGH, Urteil vom 29. Oktober 2009 – C-63/08), in der der Gerichtshof eine im luxemburgischen Arbeitsrecht statuierte 15-tätige Ausschlussfrist für die Erhebung einer Klage auf Nichtigerklärung der Kündigung für zu kurz befunden und die Einholung sachgerechten Rechtsrats während dieser kurzen Frist als „sehr schwierig“ angesehen hat.
Die vom EuGH in der aktuellen Entscheidung vorgebrachten Argumente, die Zwei-Wochen-Frist des § 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 KSchG sei zu kurz, ihre Voraussetzungen uneineindeutig und das gesamte Verfahrenssystem für Schwangere sehr komplex, sind schlüssig. Es ist daher eher nicht zu erwarten, dass das Vorlagegericht entgegen der Annahme des EuGH keinen Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz erkennen könnte. Entscheidet das Vorlagegericht im Einklang mit dem EuGH, so ist die Zwei-Wochen-Frist nicht anwendbar. Dann stellt sich die Anschlussfrage, ob die Arbeitsgerichte die entstandene Lücke durch eine Analogie zur Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG schließen können oder ob hier der Gesetzgeber tätig werden muss. Bis das BAG oder der Gesetzgeber hier Klarheit schaffen, müssen sich Arbeitgeber nun zunächst darauf einstellen, dass auch eine nach Ablauf der zweiwöchigen Frist zur nachträglichen Klagezulassung erhobene Kündigungsschutzklage u.U. nicht verfristet und damit noch zulässig ist.