Am 1. Dezember 2024 trat die neue EU-Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit in Kraft (Richtlinie - EU - 2024/2831 - EN - EUR-Lex). Diese soll die Rechte der nach Schätzungen der Europäischen Kommission rund 28 Millionen Personen stärken, die in der EU Plattformarbeit leisten, und insbesondere den spezifischen Gefahren Rechnung tragen, die sich aus dem Einsatz automatisierter Beobachtungs- und Entscheidungssysteme ergeben. Die damit einhergehenden tiefgreifenden Änderungen in den Bereichen Arbeitsrecht und Datenschutz können für Plattformbetreiber nach Umsetzung der Richtlinie weitreichende Konsequenzen haben, die deshalb etwaige Auswirkungen auf ihr Geschäftsmodell rechtzeitig überprüfen sollten.
Verlauf der Richtliniengebung
Einen ersten Richtlinienentwurf legte die Kommission bereits im Dezember 2021 vor. Nach mehreren Anläufen fand ein am 8. Februar 2024 erzielter Kompromiss die notwendige Mehrheit im Ausschuss der ständigen Vertreter des Rates der EU. Nach förmlicher Annahme des Entwurfs durch Rat und Parlament wurde die Richtlinie am 11. November 2024 im Amtsblatt der EU veröffentlicht und trat schließlich am 1. Dezember 2024 in Kraft.
Begriff der Plattformarbeit
Plattformarbeit wird in Art. 2 Abs. 1 b) der Richtlinie definiert als „Arbeit, die über eine digitale Arbeitsplattform organisiert und in der Union von einer Einzelperson auf der Grundlage eines Vertragsverhältnisses zwischen der digitalen Arbeitsplattform oder einem Vermittler und der Einzelperson ausgeführt wird, unabhängig davon, ob ein Vertragsverhältnis zwischen der Einzelperson oder einem Vermittler und dem Empfänger der Dienstleistung besteht“. Eine „digitale Arbeitsplattform“ i.S.d. Richtlinie ist gemäß deren Art. 2 Abs. 1 a) eine natürliche oder juristische Person, die eine Dienstleistung erbringt und dabei kumulativ folgende Anforderungen erfüllt:
- Sie wird zumindest teilweise auf elektronischem Wege, z. B. über eine Website oder eine mobile Anwendung, aus der Ferne bereitgestellt;
- sie wird auf Verlangen eines Empfängers der Dienstleistung erbracht;
- sie umfasst als notwendigen und wesentlichen Bestandteil die Organisation der von Einzelpersonen entgeltlich geleisteten Arbeit, unabhängig davon, ob diese Arbeit online oder an einem bestimmten Ort ausgeführt wird und
- sie geht mit dem Einsatz automatisierter Beobachtungssysteme oder automatisierter Entscheidungssysteme einher.
Maßgeblich ist also, ob die Plattform die von der Plattformarbeit leistenden Person erbrachte Dienstleistung durch ein automatisiertes System kontrollieren kann. Ist dies nicht der Fall – z.B. bei reinen Stellenvermittlungsportalen oder Verkaufsplattformen – ist die Plattform vom Anwendungsbereich der Richtlinie nicht erfasst.
In persönlicher Hinsicht erfasst die Richtlinie sowohl selbstständig tätige Plattformarbeiter als auch solche Personen, die zum Plattformanbieter in einem Arbeitsverhältnis stehen („Plattformbeschäftigte“). Grund dafür ist, dass sich von der Plattform genutzte automatisierte Entscheidungs- und Beobachtungssysteme auf die persönlichen Daten von Selbstständigen und ihre Verdienstmöglichkeiten in ähnlicher Weise auswirken wie auf echte Plattformbeschäftigte.
Hintergrund der Richtlinie
Die Vielzahl von Gerichtsverfahren in den Mitgliedstaaten zeigt, dass mit der Plattformarbeit bisher eine erhebliche Rechtsunsicherheit bezüglich der Einstufung als Arbeitsverhältnis oder selbstständige Tätigkeit einherging. Häufig wurden Plattformarbeiter als Selbstständige behandelt, was zur Folge hatte, dass ihr Zugang zu bestehenden Arbeits- und Sozialrechten eingeschränkt war.
Auch wenn die Plattformarbeit Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet, bestehen doch rechtliche Bedenken aufgrund der Verwendung der automatisierten Beobachtungs- und Entscheidungssysteme. Diese Systeme ersetzen zunehmend Funktionen, die in Unternehmen üblicherweise von Führungskräften wahrgenommen werden, wie das Zuweisen von Aufgaben, die Preisgestaltung, die Festlegung der Arbeitszeiten, das Erteilen von Anweisungen, die Bewertung der geleisteten Arbeit, das Schaffen von Leistungsanreizen oder die Sanktionierung von Pflichtverletzungen.
Personen, die Plattformarbeit leisten, haben oft keinen Zugang zu Informationen darüber, wie die Algorithmen der automatisierten Beobachtungs- und Entscheidungssysteme funktionieren, welche personenbezogenen Daten konkret verarbeitet werden und wie ihr Verhalten die Entscheidungen der automatisierten Systeme beeinflusst. Darüber hinaus haben sie in der Regel keine Möglichkeit, eine Erläuterung der automatisiert getroffenen Entscheidung zu verlangen, diese anzufechten oder eine Berichtigung oder Schadensersatz zu verlangen. Ohne eine angemessene Regulierung drohen Machtungleichgewichte, Intransparenz bei der Entscheidungsfindung und Risiken für menschenwürdige Arbeitsbedingungen, für die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie für die Gleichbehandlung und das Recht auf Privatsphäre.
An dieser Stelle setzt die Richtlinie an und verfolgt gemäß Art. 1 Abs. 1 den Zweck, die Arbeitsbedingungen und den Schutz personenbezogener Daten in der Plattformarbeit zu verbessern, indem Maßnahmen zur Erleichterung der Bestimmung des korrekten Beschäftigungsstatus von Personen, die Plattformarbeit leisten, eingeführt werden und die Transparenz, Fairness und Aufsicht durch Menschen sowie Sicherheit und Rechenschaft beim algorithmischen Management bei Plattformarbeit gefördert werden.
Gesetzliche Vermutung für ein Beschäftigungsverhältnis
Zentrale Regelung der Richtlinie ist die in Art. 5 geregelte widerlegbare Vermutung für ein (abhängiges) Beschäftigungsverhältnis. Diese Regelung soll Scheinselbstständigkeit verhindern und sicherstellen, dass der Beschäftigungsstatus von Personen, die für digitalen Plattformen arbeiten, korrekt bestimmt wird, um diese in die Lage zu versetzen, die ihnen zustehenden Arbeitnehmerrechte in Anspruch zu nehmen. Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass Plattformarbeiter regelmäßig nicht in der Lage sind, den Beweis für das Vorliegen der Voraussetzungen eines Arbeitsverhältnisses zu erbringen und das Machtungleichgewicht zwischen Plattformarbeitern und Plattformbetreibern korrigiert werden soll.
Die Vermutung greift gemäß Art. 5 Abs. 1, S. 1 der Richtlinie, „wenn gemäß den nationalen Rechtsvorschriften […] Tatsachen, die auf Steuerung und Kontrolle hindeuten, vorliegen.“ Die Mitgliedsstaaten sind also dazu gehalten, Kriterien festzulegen, nach denen die widerlegbare gesetzliche Vermutung einer abhängigen Beschäftigung greift. Auch weitere Einzelheiten der gesetzlichen Vermutung sollen die Mitgliedsstaaten gemäß Abs. 31 der Präambel der Richtlinie festlegen, sofern darin die Einführung einer wirksamen widerlegbaren gesetzlichen Vermutung für das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses gewährleistet wird, die eine Verfahrenserleichterung zugunsten von Plattformarbeitern darstellt. Die nationalen Regelungen müssen es den Plattformarbeitern also tatsächlich leicht machen, sich auf die Vermutung zu berufen.
Legen Plattformarbeiter entsprechende Tatsachen dar, geht die Beweislast für das Nichtvorliegen eines Arbeitsverhältnisses nach Art. 5 Abs. 1, S. 2 der Richtlinie auf den Plattformbetreiber über. Das bedeutet, dass der Plattformbetreiber, um die gesetzliche Vermutung zu widerlegen, nachweisen müsste, dass kein (abhängiges) Beschäftigungsverhältnis besteht.
Regulierung des Einsatzes automatisierter Beobachtungs- und Entscheidungssysteme
Nach Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie müssen die Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie sicherstellen, dass Plattformarbeiter das Recht haben, von der Plattform unverzüglich eine mündliche oder schriftliche Erklärung für jede vom automatisierten Entscheidungssystem getroffene Entscheidung zu erhalten und die Plattform den Zugang zu einer menschlichen Kontaktperson gewährt, mit der sie die Gründe, die zu der Entscheidung geführt haben, besprechen können. In Bezug auf Entscheidungen, die sich auf die zentralen Aspekte des Arbeits- oder sonstigen Vertragsverhältnisses auswirken, z.B. die Beendigung des Kontos des Plattformarbeiters oder die Verweigerung der Bezahlung, hat die Plattform der betroffenen Person unverzüglich eine schriftliche Begründung für jede vom automatisierten Entscheidungssystem getroffene oder unterstützte Entscheidung zu übermitteln. Mit diesen Regelungen soll erreicht werden, dass wichtige Entscheidungen der Plattform, die sich direkt auf die Plattformbeschäftigten auswirken, der menschlichen Kontrolle unterliegen.
Die Richtlinie verbietet zudem in ihrem Art. 7 die automatisierte Verarbeitung bestimmter sensibler Daten – wie etwa biometrische Daten, Daten über den emotionalen oder psychischen Zustand, private Gesprächsinhalte und Daten zur Vorhersage der Ausübung grundlegender Rechte – und sieht in ihrem Art. 9 vor, dass die Plattform die Plattformarbeiter über den Einsatz automatisierter Überwachungs- und Entscheidungssysteme informieren muss. Außerdem regelt die Richtlinie in Art. 10 eine Verpflichtung der Plattformen, in regelmäßigen Abständen die Auswirkungen der von den Systemen getroffenen Entscheidungen auf die Plattformarbeiter, ihre Arbeitsbedingungen sowie ihre Gleichbehandlung am Arbeitsplatz zu überprüfen.
Bedeutung für die Praxis
Die Mitgliedsstaaten haben bis zum 2. Dezember 2026 Zeit, die Bestimmungen der Richtlinie in ihr nationales Recht umzusetzen. Bis zur Umsetzung der Richtlinie bleibt es bei der bisherigen Rechtslage zur Plattformarbeit in Deutschland (Beitrag vom 11. April 2024). Im Mittelpunkt der Umsetzung der Richtlinie wird voraussichtlich die Ausgestaltung der widerlegbaren gesetzlichen Vermutung für das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses stehen, da die Mitgliedsstaaten die Kriterien für die gesetzliche Vermutung jeweils selbst festlegen sollen. Für die nationalen Regelungen in Deutschland ist zu erwarten, dass u.a. die vom BAG in der sog. „Crowdworker“-Entscheidung (Urteil vom 1. Dezember 2020 – 9 AZR 102/20, Beitrag vom 10. Dezember 2020) aufgestellten Kriterien in das Gesetz einfließen werden.
Mit der in den nächsten zwei Jahren erwartbaren nationalen Regelung einer Vermutung für ein Beschäftigungsverhältnis wird Plattformbetreibern voraussichtlich ein erheblicher Begründungsaufwand auferlegt, wenn sie diese Vermutung widerlegen wollen.
Plattformbetreibern ist zu raten, die Entwicklung der Umsetzung der Richtlinie durch den deutschen Gesetzgeber aufmerksam zu beobachten sowie ihre Geschäftsmodelle, die Maßnahmen zum Schutz der Plattformarbeiter sowie die vertraglichen Vereinbarungen rechtzeitig zu überprüfen und anzupassen, um u.U. schwerwiegende Nachteile zu vermeiden. Dies gilt auch, weil Art. 5 Abs. 6 der Richtlinie bestimmt, dass für Vertragsverhältnisse, die vor dem 2. Dezember 2026 eingegangen wurden und an diesem Tag noch bestehen, die gesetzliche Vermutung zwar nicht rückwirkend, aber doch für den Zeitraum ab diesem Tag gilt.