Das Berufungsgericht des Einheitlichen Patentgerichts (Unified Patent Court – UPC) hat seine erste Sachentscheidung veröffentlicht. Die Entscheidung vom 26. Februar 2024 formuliert allgemeine Grundsätze der (i) Auslegung sowie der (ii) Beurteilung von Verletzung und Rechtsbestand eines Europäischen Patents. Zudem gibt das Gericht Hinweise zur grundsätzlichen Darlegungs- und Beweislast im einstweiligen Verfügungsverfahren vor dem UPC. Offen bleibt, welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit der Rechtsbestand eines Patents mit einer für den Erlass einer einstweiligen Verfügung ausreichenden Sicherheit bejaht werden kann.
Ausgangslage
Der Patentstreit liegt auf dem technischen Gebiet der Nachweisstrategien für Biomoleküle. Das in Streit stehende Einheitspatent EP 4 108 782 betrifft Zusammensetzungen und Verfahren zur Analytdetektion. Die Lokalkammer München des UPC hatte am 19. September 2023 der Antragsgegnerin per einstweiliger Verfügung verboten, Analysesysteme, Nachweisreagenzien und Dekodersonden anzubieten und zu liefern sowie ein entsprechendes Nachweisverfahren anzuwenden bzw. zur Anwendung in benannten Mitgliedsstaaten des UPCA anzubieten (Az. UPC_CFI_2/2023). Neben einer Vielzahl von anderen Streitpunkten ging es vor allem um den Rechtsbestand des Patents. Anders als die Patentstreitkammern im deutschen Trennungssystem hat das UPC die Kompetenz sowohl über die Verletzung als auch über den Rechtsbestand eines Europäischen Patents zu entscheiden. Die Lokalkammer München hat es für den Erlass einer einstweiligen Verfügung als ausreichend angesehen, dass das Gericht das Patent mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gültig hält.
Entscheidung des UPC-Berufungsgerichts
Die Berufungsinstanz des UPC hebt die einstweilige Verfügung der Lokalkammer München auf und weist den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ab (Az. UPC_CoA_335/2023):
1. Auslegungsgrundsätze: Die Berufungsinstanz legt das Patent anders aus, als die Lokalkammer. Es nutzt die Gelegenheit dazu, ausdrücklich festzustellen, dass die im Auslegungsprotokoll zu Art. 69 EPÜ formulierten Grundsätze der Patentauslegung im Verfahren vor dem UPC anzuwenden sind:
- Der Patentanspruch ist nicht nur der Ausgangspunkt, sondern die maßgebliche Grundlage für die Bestimmung des Schutzbereichs eines europäischen Patents.
- Für die Auslegung eines Patentanspruchs kommt es nicht allein auf seinen genauen Wortlaut im sprachlichen Sinne an. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind nicht nur zur Behebung etwaiger Unklarheiten im Patentanspruch anzuwenden, sondern stets als Erläuterungshilfen für die Auslegung des Patentanspruchs mit heranzuziehen.
- Der Patentanspruch dient nicht lediglich als Richtlinie. Sein Gegenstand erstreckt sich auch auf das, was sich nach Prüfung der Beschreibung und der Zeichnungen als Schutzbegehren des Patentinhabers darstellt.
- Der Patentanspruch ist aus Sicht der Fachperson auszulegen.
Das Berufungsgericht stellt fest, dass diese Grundsätze nicht nur für die Auslegung eines Patentanspruchs, sondern gleichermaßen auch für die Beurteilung der Verletzung und des Rechtsbestands eines europäischen Patents gelten. Sie dienen dazu, einen angemessenen Schutz für den Patentinhaber mit ausreichender Rechtssicherheit für Dritte zu verbinden.
2. Kein Prüfungsmaßstab: Das Berufungsgericht stellt klar, dass in inter partes Verfügungsverfahren die Darlegungs- und Beweislast für Tatsachen betreffend den fehlenden Rechtsbestand des Patents beim Antragsgegner liegt.
Aufgrund des summarischen Charakters eines einstweiligen Verfügungsverfahrens dürften die Anforderungen an den Beweis nicht zu hoch, andererseits aber auch nicht zu niedrig angesetzt werden.
Das Berufungsgericht formuliert keinen Prüfungsmaßstab, anhand dessen die für den Erlass einer einstweiligen Verfügung nötige, ausreichend sichere Überzeugung des Gerichts von der Gültigkeit eines Patents zu bejahen ist. Den von der Lokalkammer aufgestellten Maßstab der „überwiegenden Wahrscheinlichkeit“ der Gültigkeit des Patents bestätigt das Berufungsgericht nicht. Stattdessen trifft es nur die (selbstverständliche) Feststellung, es fehle an der nötigen ausreichend sicheren Überzeugung von der Verletzung des Patents, wenn es das Gericht für überwiegend wahrscheinlich ansieht, dass das Patent nicht gültig ist.
3. In der Sache nimmt das Berufungsgericht eine eingehende Prüfung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands des Patents gemäß Hauptantrag und gemäß Hilfsantrag vor. Anders als die Lokalkammer München kommt das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, dass es überwiegend wahrscheinlich ist, dass das Patent sich in einem Hauptsacheverfahren wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit als nicht patentfähig erweisen wird. Daher fehle an einer ausreichend sicheren Grundlage für den Erlass einer einstweiligen Verfügung.
4. Zur erstinstanzlich kontrovers diskutierten Frage, inwiefern der Erlass einer einstweiligen Verfügung erfordert, dass die Angelegenheit dringlich ist, äußert sich das Berufungsgericht nicht.
Praxishinweis
Das Berufungsgericht stellt mit seiner ersten Sachentscheidung erste, grundlegende „Leitplanken“ für die UPC-Verfahren auf, die weit gesteckt sind und der gebotenen Einzelfallbetrachtung ausreichend Raum lassen.
Das Berufungsgericht hat davon abgesehen zu formulieren, unter welchen Voraussetzungen die Gültigkeit eines Patents zur Überzeugung des Gerichts ausreichend sicher ist. Seine Feststellung, dass es an der nötigen Überzeugung fehlt, wenn das Gericht es für überwiegend wahrscheinlich erachtet, dass das Patent ungültig ist, ist eine Selbstverständlichkeit. Sie erlaubt nicht die Annahme, dass das Berufungsgericht der Auffassung der Lokalkammer zustimmt, wonach „ausreichend sicher“ i.S.d. Art. 62(4) EPGÜ mit (lediglich) „überwiegend wahrscheinlich“ gleichzusetzen ist.
Wenn der Antragsgegner die Darlegungs- und Beweislast für den fehlenden Rechtsbestand des Patents trägt, spricht dies jedoch dafür, dass der Rechtsbestand eines Patents in Verfügungsverfahren vor dem UPC tendenziell eine niedrigere Hürde ist, als in Verfügungsverfahren vor den deutschen Patentstreitkammern.