Arbeitsrecht

Schlechtere Arbeitsbedingungen für Leiharbeitnehmer müssen ausgeglichen werden

Der EuGH hat entschieden, dass Tarifverträge, die für Leiharbeitnehmer schlechtere Arbeitsbedingungen als für Arbeitnehmer des Entleiherbetriebs vorsehen, Ausgleichsvorteile vorsehen müssen, um diese Ungleichbehandlung zu kompensieren.

EuGH, Urteil vom 15. Dezember 2022 – C-311/21 (CM/TimePartner Personalmanagement GmbH)

Sachverhalt

Die Klägerin war zwischen Januar und April 2017 bei einem Leiharbeitsunternehmen befristet beschäftigt. In dieser Zeit wurde sie an ein Einzelhandelsunternehmen überlassen und war dort als Kommissioniererin tätig. Auf Grundlage eines Tarifvertrags, der zwischen dem das Leiharbeitsunternehmen vertretenden Interessenverband und der Gewerkschaft abgeschlossen wurde, deren Mitglied die Klägerin war, erhielt die Klägerin für ihre Tätigkeit einen Bruttostundenlohn von EUR 9,23. Der Tarifvertrag wich damit gemäß § 8 Abs. 2 AÜG vom Equal-Pay-Grundsatz ab, indem er für Leiharbeitnehmer einen geringeren Lohn vorsah als für die Arbeitnehmer des Entleihers, die nach dem Lohntarifvertrag für Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern einen Bruttostundenlohn von EUR 13,64 erhielten.

Die Klägerin erhob vor dem Arbeitsgericht Klage auf Zahlung von EUR 1.296,72, der Differenz, die für den Zeitraum ihrer Überlassung zwischen ihrem Lohn und dem Lohn, der den mit ihr vergleichbaren, beim Entleiher angestellten Arbeitnehmern gezahlt wurde. Dabei vertrat sie die Auffassung, dass die einschlägigen Bestimmungen des AÜG sowie des Tarifvertrags für Leiharbeitnehmer nicht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 5 der Leiharbeitsrichtlinie vereinbar seien. Nachdem ihre Klage ab- und die Berufung zurückgewiesen wurde, legte die Klägerin Revision beim BAG ein, das den EuGH mit fünf Vorlagefragen zur Auslegung der Leiharbeitsrichtlinie befasst hat.

Entscheidung des EuGH

Gemäß Art. 5 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie (2008/104/EG) müssen die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen (d.h. Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und Arbeitsentgelt, Art. 3 Abs. 1 lit. f der Leiharbeitsrichtlinie) für Leiharbeitnehmer für die Dauer der Überlassung mindestens dem Niveau entsprechen, das für die Arbeitnehmer des Entleihers gilt. Art. 5 Abs. 3 der Leiharbeitsrichtlinie räumt den Mitgliedstaaten das Recht ein, den Tarifvertragsparteien zu ermöglichen, „unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ Tarifverträge abzuschließen, die von dem vorstehenden Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 5 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie abweichen. Hiervor hat Deutschland mit § 8 Abs.  2 AÜG Gebrauch gemacht. Im Kern der Entscheidung des EuGH stand die Frage, was unter dem „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmer“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Leiharbeitsrichtlinie zu verstehen ist. Der EuGH entschied, dass der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern in dem Fall, dass ein Tarifvertrag zum Nachteil der Leiharbeitnehmer vom Gleichbehandlungsgrundsatz abweicht, nur dann gewährleistet sei, wenn dieser Tarifvertrag den Leiharbeitnehmern im Gegenzug Vorteile gewähre, die die Auswirkungen dieser Ungleichbehandlung ausgleichen.

Die Leiharbeitsrichtlinie verpflichte die Mitgliedstaaten vor diesem Hintergrund zwar nicht zum Erlass bestimmter Regelungen, mit denen der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern gewährleistet werden soll. Allerdings müssten die Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer Gerichte, dafür Sorge tragen, dass Tarifverträge, die Ungleichbehandlungen von Leiharbeitnehmern zuließen, gleichzeitig den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern beachten.

Die Prüfung, ob der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern gewährleistet sei, habe in drei Schritten zu erfolgen. In einem ersten Schritt seien die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu bestimmen, die für die Stammarbeitnehmer des Entleihers gelten. In einem zweiten Schritt seien jene mit den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu vergleichen, die sich aus dem jeweiligen Tarifvertrag für die Leiharbeitnehmer ergeben. Soweit sich aus diesem Vergleich eine Ungleichbehandlung ergebe, sei in einem dritten Schritt zu prüfen, ob der Tarifvertrag Ausgleichsvorteile gewähre und ob diese eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung ermöglichen.

Gleiss Lutz kommentiert

Die Umsetzung der Vorgaben des EuGH wird in Deutschland auf erhebliche praktische Schwierigkeiten stoßen: Zwar folgt aus der Entscheidung des EuGH nicht, dass § 8 AÜG in seiner jetzigen Fassung gegen die Leiharbeitsrichtlinie verstößt und daher unanwendbar wäre. Allerdings sind künftig die Arbeitsgerichte verpflichtet, zu prüfen, ob Tarifverträge, die zuungunsten von Leiharbeitnehmern vom Gleichbehandlungsgrundsatz abweichen, Ausgleichsvorteile vorsehen, die diese Ungleichbehandlung kompensieren. Bei dieser Prüfung kann auch der Umstand berücksichtigt werden, dass Leiharbeitnehmer nach deutschem Recht in Zeiten, in denen sie nicht verliehen werden, nach § 615 BGB, § 11 Abs. 4 S. 2 AÜG entlohnt werden müssen. Soweit die Entlohnung für einsatzfreie Zeiten die Ungleichbehandlung aber nicht kompensieren kann, müssen die Tarifvertragsparteien, die zuungunsten von Leiharbeitnehmern vom Gleichbehandlungsgrundsatz abweichen wollen, künftig entsprechende Ausgleichsvorteile im Tarifvertrag vorsehen. Für die Praxis folgt hieraus eine Reihe ungeklärter Fragen. Unklar ist etwa, wie verschiedene Arbeitsbedingungen ins Verhältnis gesetzt werden müssen, um einen hinreichenden Ausgleichsvorteil zu schaffen: Wie viele zusätzliche Urlaubstage sind einem Leiharbeitnehmer etwa zu gewähren, um eine bestimmte Absenkung des Arbeitsentgelts gegenüber demjenigen der Stammarbeitnehmer zu rechtfertigen? Darüber hinaus sind Tarifverträge nach deutschem Verständnis darauf ausgelegt, abstrakte und generelle Regelungen zu schaffen. Das vom EuGH vorgeschriebene Prüfungsprogramm setzt demgegenüber eine konkrete Einzelfallbetrachtung voraus. Um einen wirksamen Tarifvertrag abzuschließen, müssten Tarifvertragsparteien künftig jedes mögliche Einsatzgebiet der in den Anwendungsbereich des Tarifvertrages fallenden Leiharbeitnehmer abbilden und für jede denkbare Fallkonstellation zutreffend prognostizieren, in welchem Maße die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer die der Stammarbeitnehmer unterschreiten wird und welche Ausgleichsvorteile dementsprechend vorgesehen werden müssen. Dies dürfte in der Praxis kaum gelingen.

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