Am 19. Juli 2024 trat das „Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten“ in Kraft. Neben der Reform der zivilprozessualen Vorschriften wurde für die Arbeitsgerichtsbarkeit mit § 50a ArbGG eine eigenständige Regelung für Videoverhandlungen geschaffen.
Hintergrund
Bereits seit dem Jahr 2002 ermöglichte es § 128a ZPO a.F., dass eine mündliche Verhandlung vor den Zivilgerichten auch als Videoverhandlung durchgeführt wird. Durch den Verweis in § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG galt dies auch für arbeitsgerichtliche Prozesse. In der Praxis führten Videoverhandlungen allerdings eher ein Schattendasein. Erst durch die Covid-19-Pandemie Anfang 2020 wurde notgedrungen in größerem Umfang von der Möglichkeit der Videoverhandlung Gebrauch gemacht. Die praktische Erfahrung mit dem Einsatz von Videokonferenztechnik zeigte dabei schnell, dass Anpassungsbedarf bei den verfahrensrechtlichen Grundlagen bestand. Ein daraufhin veröffentlichter Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz sah zunächst eine Neufassung des § 128a ZPO und einen entsprechend hierauf gerichteten Verweis in § 54 Abs. 1 ArbGG-E und – anders als für andere Fachgerichtsbarkeiten – keine eigenständige Regelung für die Arbeitsgerichtsbarkeit vor. Dies führte zu deutlicher Kritik von Arbeitsrechtlern. Der von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzesentwurf zum „Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten” nahm diese Kritik zum Anlass, mit § 50a ArbGG n.F. eine eigenständige Regelung für Videoverhandlungen im Arbeitsgerichtsprozess zu schaffen, in der die Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens berücksichtigt wurden. Nach längeren parlamentarischen Auseinandersetzungen wurde der Entwurf verabschiedet und trat nun am 19. Juli 2024 in Kraft (BGBl. 2024 I Nr. 237).
§ 50a ArbGG als zentrale Regelung der Videoverhandlung arbeitsgerichtlichen Prozess
Im Rahmen der Gesetzesreform wurden die verfahrensrechtlichen Regelungen zur Videoverhandlung im Arbeitsgerichtsprozess von der zuvor über § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG für anwendbar erklärten Norm des § 128a ZPO abgekoppelt und eigenständig normiert. Der Rechtsrahmen für Videoverhandlungen im Arbeitsgerichtsprozess ist nunmehr zentral in § 50a ArbGG geregelt, der sich aufgrund der Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens in einigen Punkten von der – im gleichen Zuge reformierten – zivilprozessualen Regelung des § 128a ZPO n.F. unterscheidet. Der neu geschaffene „§ 50a ArbGG Videoverhandlung“ lautet wie folgt:
„(1) Die mündliche Verhandlung kann in geeigneten Fällen und soweit ausreichende Kapazitäten zur Verfügung stehen als Videoverhandlung stattfinden. Eine mündliche Verhandlung findet als Videoverhandlung statt, wenn an ihr mindestens ein Verfahrensbeteiligter per Bild- und Tonübertragung teilnimmt. Verfahrensbeteiligte nach dieser Vorschrift sind die Parteien und Nebenintervenienten sowie ihre Bevollmächtigten, Vertreter und Beistände.
(2) Der Vorsitzende kann unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten oder von Amts wegen die Teilnahme per Bild- und Tonübertragung für einen Verfahrensbeteiligten, mehrere oder alle Verfahrensbeteiligte gestatten. Die Ablehnung eines Antrags auf Teilnahme per Bild- und Tonübertragung ist kurz zu begründen.
(3) Den Verfahrensbeteiligten und Dritten ist es untersagt, die Videoverhandlung aufzuzeichnen. Hierauf sind sie zu Beginn der Verhandlung hinzuweisen. Die Videoverhandlung kann für die Zwecke des § 160a der Zivilprozessordnung ganz oder teilweise aufgezeichnet werden. Über Beginn und Ende der Aufzeichnung sind die Verfahrensbeteiligten zu informieren.
(4) Entscheidungen nach dieser Vorschrift sind unanfechtbar.“
Grundsätze der Videoverhandlung im arbeitsgerichtlichen Prozess
Während die neue Fassung des § 128a ZPO einen eingeschränkten Ermessensspielraum bei der Anordnung der Videoverhandlung durch den Vorsitzenden („soll…gestatten“), die Möglichkeit des Einspruchs gegen die Anordnung sowie die Auflösung der „Kammerpräsenz“ im Sitzungssaal vorsieht, greift § 50a ArbGG im Wesentlichen die bereits zuvor geltenden Regelungen des § 128a Abs. 1 und 2 ZPO a.F. auf. Für Videoverhandlungen vor den Arbeitsgerichten gelten danach nunmehr die folgenden Grundsätze:
- Der Begriff der Videoverhandlung wird in § 50a Abs. 1 ArbGG (entsprechend des neuen § 128a Abs. 1 ZPO n.F.) definiert, wodurch Videoverhandlungen mit den klassischen Verhandlungen im Gerichtssaal gleichgestellt werden. Danach kann eine mündliche Verhandlung inklusive aller Verfahrenshandlungen als Videoverhandlung stattfinden. Eine Videoverhandlung liegt vor, „wenn an ihr mindestens ein Verfahrensbeteiligter per Bild- und Tonübertragung teilnimmt”. Das Gesetz bestimmt damit, dass – wie bisher – auch „hybride Verhandlungen“ möglich sind, bei der sich einige der Verfahrensbeteiligten im Gerichtssaal aufhalten und andere per Video und Ton zugeschaltet werden. Dies gilt jedoch nicht für den Vorsitzenden bzw. die Kammer, die weiterhin vollständig für die gesamte Dauer der Verhandlung im Sitzungssaal präsent sein muss, um den unmittelbaren Austausch und die Beratungen der haupt- und ehrenamtlichen Richter zu gewährleisten. Hierin liegt einer der wesentlichen Unterschiede zu § 128a ZPO n.F., der in seinem Abs. 5 das Prinzip der Kammerpräsenz aufweicht.
- Im Unterschied zur Neufassung des § 128a Abs. 2 S. 1 ZPO kann der Vorsitzende im Arbeitsgerichtsprozess auf (nicht fristgebundenen) “Antrag eines Verfahrensbeteiligten oder von Amts wegen” die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung per Bild- und Tonübertragung nach pflichtgemäßem Ermessen gem. § 50a Abs. 2 ArbGG gestatten, aber nicht anordnen. Zum einen kann der Vorsitzende damit „auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten“ tätig werden. Lehnt er den Antrag auf Teilnahme per Videoverhandlung ab, muss er die Ablehnung – und das ist neu – gem. Abs. 2 S. 2 „kurz begründen“. Zum anderen kann der Vorsitzende auch selbst aktiv werden und die Teilnahme per Videoverhandlung im Rahmen seines Ermessens „von Amts wegen“ gestatten. In dem Fall sind die Verfahrensbeteiligten – anders als bei einer rechtskräftigen Anordnung nach § 128a Abs. 2 S. 1 ZPO im Zivilprozess – jedoch nicht verpflichtet, per Video an der Verhandlung teilzunehmen. Sie haben weiterhin das Recht, physisch im Gerichtssaal zu erscheinen und an der Verhandlung teilzunehmen.
- Wird das persönliche Erscheinen eines Beteiligten angeordnet, so erfüllt dieser die Anordnung durch seine Teilnahme an der Videoverhandlung (§ 51 Abs. 1 S. 2 ArbGG). Die Verfahrensbeteiligten können im Übrigen auch weiterhin jederzeit von ihrem Recht Gebrauch machen, persönlich an der mündlichen Verhandlung im Gerichtssaal teilzunehmen.
- In § 50a Abs. 3 ArbGG stellt der Gesetzgeber klar, dass eine Aufzeichnung der Videoverhandlung durch die Parteien selbst untersagt und nur zu „vorläufigen“ Protokollierungszwecken durch das Gericht gestattet ist. Im Übrigen sind stets datenschutzrechtliche Aspekte zu beachten, da sich nach der Rechtsprechung des BAG (Urteil vom 29. Juni 2023 – 2 AZR 296/22) die Zulässigkeit der Datenverarbeitung im Zivilprozess nach der DS-GVO richtet und bei Videoverhandlungen personenbezogene Daten (Art. 6 Abs. 1 lit. e DS-GVO) verarbeitet werden.
- Wie bisher, sind auch weiterhin alle im Rahmen des § 50a ArbGG getroffenen Entscheidungen nach Abs. 4 der Norm unanfechtbar. Hier besteht ein Unterschied zu § 128a Abs. 2 S. 2 ZPO n.F., nach dem ein Verfahrensbeteiligter innerhalb von zwei Wochen Einspruch gegen die Anordnung zur Teilnahme an der Videoverhandlung einlegen kann.
Gleiss Lutz kommentiert
Die neu geschaffene Vorschrift des § 50a ArbGG regelt die Videoverhandlung im Arbeitsgerichtsprozess und verdrängt als speziellere Rechtsnorm die für den Zivilprozess geltende Vorschrift des § 128a ZPO n.F. Ihre inhaltlichen Unterschiede zu § 128a ZPO n.F. tragen den arbeitsgerichtlichen Besonderheiten Rechnung: Insbesondere eine (teilweise) Aufgabe der Kammerpräsenz im Gerichtssaal, eine verpflichtende Teilnahme von Verfahrensbeteiligten an einer Videoverhandlung aufgrund einer gerichtlichen Anordnung und das dazugehörige Einspruchsrecht gegen die Anordnung wären im arbeitsgerichtlichen Prozess nicht sachgerecht und wurden daher zu Recht nicht in § 50a ArbGG übernommen. Die Beibehaltung der Kammerpräsenz im Gerichtssaal dient dem im arbeitsgerichtlichen Verfahren notwendigen unmittelbaren Austausch der (ehrenamtlichen) Richter, insbesondere bei der Erörterung mit den Parteien sowie der Vor- und Nachberatung. Die Parteien müssen zudem wegen der hohen Bedeutung eines arbeitsgerichtlichen Prozesses stets die Möglichkeit haben, an der mündlichen Verhandlung vor Ort im Gerichtssaal teilzunehmen. Die Möglichkeit des Einspruchs gegen eine gerichtliche Anordnung würde zudem eine zeitnahe Terminierung der arbeitsgerichtlichen (Güte-)Verhandlung erschweren.
Mit der aktuellen Reform hat der Gesetzgeber (auch) für das Arbeitsrecht zu Recht eine eigenständige (Sonder-)Regelung geschaffen, die den Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens Rechnung trägt. Videoverhandlungen stellen eine sinnvolle Alternative zur Präsenzverhandlung dar, etwa bei eher einfach gelagerten Sachverhalten, offenen (einfacheren) Rechtsfragen, kleinen Streitwerten oder langen Anfahrtswegen für die Parteien. Zu hoffen ist, dass bei den Arbeitsgerichten alsbald flächendeckend die technischen Möglichkeiten für die Durchführung von Videoverhandlungen geschaffen werden, damit in geeigneten Fällen tatsächlich von diesem sinnvollen Instrument Gebrauch gemacht werden kann.
Praktische Probleme zeichnen sich bereits jetzt darin ab, dass mit der Reform keine spezifischen Vorgaben zur Nutzung bestimmter Soft- und Hardware gemacht wurden. Sofern zukünftig in der Justiz kein einheitliches Videokonferenzsystem etabliert wird, wird sich die Praxis auf verschiedene Gegebenheiten an unterschiedlichen Gerichtsstandorten einstellen müssen. Zudem plant die Bundesregierung für den Zivilprozess bereits den nächsten „großen“ Schritt. Mit dem „Entwurf eines Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit“ vom 4. September 2024 (BMJ - Pressemitteilungen - Gesetz zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit) soll die ZPO um ein 12. Buch ergänzt und an ausgewählten Amtsgerichten ab dem Jahr 2025 vollständig digital geführte Zivilverfahren (Online-Verfahren) erprobt werden. Ob sich dies, sollte die Erprobungsphase erfolgreich sein, auch auf die Arbeitsgerichtsbarkeit auswirkt, bleibt abzuwarten. Aktuell erscheint es jedoch weder vorstellbar noch sinnvoll, dass beispielsweise komplexe Kündigungsschutzverfahren oder betriebsverfassungsrechtliche Streitigkeiten vollständig – von der Klageerhebung bis zum Urteil – digital durchgeführt werden.