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Referentenentwurf zur Umsetzung der europäischen Verbandsklagenrichtlinie

Am 16. Februar 2023 hat das Bundesjustizministerium einen Referentenentwurf zur Umsetzung der europäischen Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher vorgelegt (hier gelangen Sie zum Referentenentwurf). Der Entwurf sieht vor, die bisherige Musterfeststellungsklage und die von der Verbandsklagenrichtlinie vorgegebene neuartige Verbandsklage auf Leistung (die sogenannte Abhilfeklage) in einem neuen Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (VDuG) zusammenzufassen. Ansprüche gleich welchen Gegenstands können danach von einem Verband für eine Vielzahl von Verbrauchern und kleinen Unternehmen gemeinsam geltend gemacht werden, sofern die Ansprüche „gleichartig“ sind. Mit der Abhilfeklage wird erstmals ein Rechtsschutzinstrument in das deutsche Recht eingeführt, das eine auf Schadensersatz gerichtete Sammelklage ermöglicht.

Da die Richtlinie nur einen Mindeststandard vorgibt, wurde mit Spannung erwartet, wie der deutsche Gesetzgeber die bestehenden Umsetzungsspielräume nutzen würde.
 

Kernpunkte:

  1. Sämtliche Ansprüche von Verbrauchern (und kleinen Unternehmen) gegen Unternehmen können Gegenstand der neuen Abhilfeklage sein. Damit geht der Entwurf über die Richtlinie hinaus, die nur Ansprüche wegen Verstoßes gegen bestimmte Verbraucherschutzbestimmungen des EU-Rechts (einschließlich der nationalen Umsetzungsnormen) als Gegenstand vorgegeben hatte.
  2. Die Ansprüche müssen „gleichartig“ sein. Dabei ist ein Grad der Ähnlichkeit der Ansprüche erforderlich, der eine schablonenhafte Prüfung zulässt. Die Auslegung dieses Kriteriums wird entscheidend dafür sein, wie eng oder breit der Anwendungsbereich der Abhilfeklage künftig sein wird.
  3. Der Entwurf sieht für die Abhilfeklage wie schon für die Musterfeststellungsklage ein Opt-in-Modell vor. Der Anspruchsinhaber muss sich der Klage also aktiv anschließen, sein Anspruch wird nicht automatisch erfasst wie bei einem Opt-out-Modell ähnlich einer US-amerikanischen Class Action.
  4. Das Opt-in zur Teilnahme an der Abhilfeklage und zur Verjährungshemmung muss, wie es aus der Musterfeststellungsklage bekannt ist, spätestens am Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung erfolgen. Nicht durchgesetzt hat sich damit der Vorschlag eines späteren Opt-in, das in Verbindung mit einer umfassenden Verjährungshemmung ohne Tätigwerden des Verbrauchers zu einer erheblichen Erhöhung des potentiell vom beklagten Unternehmen zu erstattenden Schadensvolumens geführt hätte.
  5. Das Gericht kann das beklagte Unternehmen zur Zahlung eines kollektiven Gesamtbetrags verurteilen, dessen Höhe es unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung bestimmen kann. Ein Sachwalter wird mit der Verteilung des Gesamtbetrags an die teilnehmenden Verbraucher beauftragt. Die hierfür anfallenden Kosten hat das beklagte Unternehmen zu tragen.
  6. Es werden Vorgaben zu klageberechtigten Verbänden und der zulässigen Drittfinanzierung gemacht, die vor Missbrauch schützen sollen. Ob diese ausreichen, um das Wachsen einer Klageindustrie zu verhindern, bleibt abzuwarten.
  7. Insgesamt ist die von der Richtlinie bereits vorgegebene Einführung der Abhilfeklage mit einem erheblichen Risiko für Unternehmen verbunden, Adressat von hochvolumigen, gebündelten Schadensersatzklagen zu werden. Jedoch bewahrt der Entwurf Augenmaß und fügt sich insgesamt in das System des geltenden Rechts ein.
  8. Sammelinkassoklagen, bei denen Ansprüche an ein Klagevehikel abgetreten werden, sowie massenhaft erhobene Individualklagen können auch weiterhin erhoben werden. Sie werden durch die neuartige Abhilfeklage nicht ausgeschlossen und werden wohl auch weiter relevant bleiben.


Anwendungsbereich der Abhilfeklage

Nach der Richtlinie muss das Verbandsklageverfahren nur bei Verletzung von bestimmten Verbraucherschutzbestimmungen des EU-Rechts (einschließlich der nationalen Umsetzungsnormen) zur Verfügung stehen. Diese Einschränkung hat der Referentenentwurf nicht übernommen. Danach ist die Abhilfeklage in allen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmen verfügbar.
Damit können beispielsweise auch Kartellschadensersatzansprüche, deren Einbeziehung von der Richtlinie nicht vorgegeben war, sowie allgemein deliktische Ansprüche möglicher Gegenstand von Abhilfeklagen sein.

Die Abhilfeklage ist jedoch nur zulässig, wenn die geltend gemachten Ansprüche „gleichartig“ sind. Nach der Entwurfsbegründung soll die Ähnlichkeit der Ansprüche so stark ausgeprägt sein, dass eine schablonenhafte Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch das Gericht möglich ist.

Das Gericht soll sich nicht mit diversen unterschiedlichen Rechtsfragen befassen müssen, die individuell abweichende Fallkonstellationen aufwerfen. Paradigmatisch seien die Fälle der pauschalierten Fluggastentschädigung, für die individuelle Umstände bei den Passagieren desselben Flugs keine Rolle spielen. Die Berechenbarkeit des Anspruchs nach einer bestimmten Formel (z.B. bei unwirksamen Zinsanpassungsklauseln in Sparverträgen, schon bisher ein häufiger Gegenstand von Musterfeststellungsklagen) soll das Kriterium der Gleichartigkeit ebenfalls erfüllen. Die Gleichartigkeit würde dagegen fehlen, wenn nur einzelne Produkte aus einer Serie fehlerhaft sind, was im Einzelfall zu klären sei, oder nur einzelne Ansprüche verjährt sind. Das Kriterium der Gleichartigkeit birgt viel Raum für Diskussion und ist gleichzeitig maßgeblich dafür, wie eng oder breit der Anwendungsbereich der Abhilfeklage künftig sein wird.

 

Opt-in und Verjährung

Um an der Abhilfeklage teilzunehmen und von deren verjährungshemmender Wirkung zu profitieren, müssen Verbraucher ihre Ansprüche spätestens am Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung zum Verbandsklageregister anmelden.

Während ein Opt-out-Modell nicht ernsthaft vorgeschlagen wurde, war der Zeitpunkt des Opt-in Gegenstand kontroverser Diskussion. Alternativ wurde ein später Opt-in, auch noch nach einem Vergleich oder Urteil, vorgeschlagen. In Kombination mit einer Verjährungshemmung für alle betroffenen Verbraucher durch die Abhilfeklage ohne individuelle Anmeldung wäre dies im Ergebnis einem Opt-out-Modell nahegekommen. Verbraucher hätten abwarten können, wie über die Abhilfeklage rechtskräftig entschieden wird, und dann auch noch nach Jahren ohne Verjährungsrisiko ihre Ansprüche geltend machen können. Diesem Vorschlag folgt der Entwurf nicht. Das Erfordernis einer frühen Anmeldung ermöglicht es dem beklagten Unternehmen, recht früh das Gesamtrisiko einer Klage abzuschätzen.

Anders als noch bei der Musterfeststellungsklage ist für die Zulässigkeit der Abhilfeklage dagegen nicht erforderlich, dass mindestens 50 Verbraucher den Opt-in erklärt haben. Vielmehr genügt es, wenn glaubhaft gemacht wird, dass 50 Verbraucher betroffen sind. Die Anmeldung beim Bundesamt für Justiz ist zudem sehr niederschwellig ausgestaltet (kein Anwaltszwang, Textform, keine Kosten).  


Erstreckung der Abhilfeklage auf kleine Unternehmen

Wenn eine Abhilfeklage für Verbraucher erhoben wird, ist der Beitritt dazu auch für kleine Unternehmen möglich, sofern diese gleichermaßen betroffen sind. Kleine Unternehmen sind solche, die weniger als 50 Personen beschäftigen und deren Jahresumsatz oder Jahresbilanz EUR 10 Millionen nicht übersteigt. Eine solche Erstreckung war im Koalitionsvertrag schon angelegt, der Entwurf geht damit jedoch über die Vorgaben der Richtlinie hinaus. Dies könnte bei kartellrechtlichen Schadensersatzklagen relevant werden, die in bestimmten Fällen sowohl Verbraucher als auch kleine Unternehmen betreffen können. Hier wird besonderes Augenmerk auf die Frage der Gleichartigkeit der Ansprüche zu legen sein, weil Unternehmen und Verbraucher häufig auf unterschiedlichen Marktstufen betroffen sein dürften.


Urteil und Umsetzung

Der Entwurf sieht ein dreistufiges Konzept vor: Zunächst kann das Gericht ein Abhilfegrundurteil erlassen, wenn es die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt hält. Auf dieser Basis soll es dann die Möglichkeit zu Vergleichsgesprächen geben. Kommt es nicht zu einem Vergleich, kann das Gericht ein Abhilfeendurteil erlassen, in dem ein kollektiver Gesamtbetrag für alle Anspruchsteller ausgeurteilt werden kann. Dieser Betrag ist vom verurteilten Unternehmen in einen Umsetzungsfonds zu zahlen. Mit der Umsetzung, d.h. der Verteilung des Gesamtbetrags an die Anspruchsteller, wird ein Sachwalter beauftragt.

Das Gericht kann den kollektiven Gesamtbetrag unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung bestimmen. Dabei ist eine Schätzung möglich, bei der das Gericht einen denkbaren Höchstbetrag zugrunde legen darf. Aus Beklagtensicht ist wichtig zu wissen, dass der ausgeurteilte Betrag vorläufiger Natur ist. Mit seiner Zahlung ist die Angelegenheit daher nicht ohne weiteres abschließend erledigt. Wenn der Betrag nicht ausreicht, kann er auf Antrag nachträglich erhöht werden. Wenn sich nach Befriedigung der berechtigten Ansprüche herausstellt, dass der Betrag zu hoch ist, wird der Restbetrag wieder an das verurteilte Unternehmen ausgekehrt. Auch ein nur vorläufig festgesetzter kollektiver Gesamtbetrag kann dennoch eine erhebliche Liquiditätsbelastung darstellen.

Zur Verteilung des Gesamtbetrags unter den Anspruchstellern setzt das Gericht einen Sachwalter ein. Hierfür kommen nach der Entwurfsbegründung Rechtsanwälte, Steuerberater, Betriebswirte, Insolvenzverwalter oder Wirtschaftsprüfer in Betracht. Der Sachwalter prüft die individuelle Berechtigung der Anspruchsteller und befriedigt die Ansprüche aus dem Gesamtbetrag. Die Kosten der Umsetzung einschließlich der Vergütung des Sachwalters sind vom verurteilten Unternehmen zu tragen.

Sofern das beklagte Unternehmen individuelle Einwendungen betreffend den geltend gemachten Anspruch hat, die vom Sachwalter nicht anerkannt wurden, kann es diese seinerseits im Wege einer Klage geltend machen. Dasselbe gilt im umgekehrten Fall für den Verbraucher.


Schutz vor Missbrauch

Der Entwurf stellt gewisse Anforderungen an die klageberechtigten Verbände und eine Finanzierung durch Dritte, die ausschließen sollen, dass die Abhilfeklage nicht im Interesse der Verbraucher, sondern nur zur Gewinnerzielung eingesetzt wird. Klageberechtigt ist ein Verband beispielsweise nur dann, wenn er Verbandsklagen nicht zum Zwecke der Gewinnerzielung erhebt und nicht mehr als 5 Prozent seiner finanziellen Mittel durch Zuwendungen von Unternehmen bezieht. Eine Finanzierung durch Dritte ist zwar grundsätzlich zulässig, ist aber dann ausgeschlossen, wenn der Prozessfinanzierer ein Wettbewerber des verklagten Unternehmers ist, er vom verklagten Unternehmer abhängig ist oder von dem zu erwarten ist, dass er die Prozessführung der klageberechtigten Stelle, einschließlich Entscheidungen über Vergleiche, zu Lasten der Verbraucher beeinflussen wird. Welche Geschäftschancen Prozessfinanzierer in diesem Rahmen sehen und ob diese tatsächlich den Schutz der Verbraucher fördern, bleibt abzuwarten.

Der Entwurf enthält keine neuen an eine US-Discovery angelehnten Regelungen zur Offenlegung von Beweismitteln. Zwar werden die schon nach bisherigem Recht bestehenden Möglichkeiten zur Anordnung von Offenlegungen nunmehr auch gegenüber den Parteien durch Sanktionen erzwingbar, das dürfte jedoch nichts an der restriktiven Handhabung derselben durch die Gerichte ändern.


Fazit

Interessierte Kreise können ihre Anmerkungen zum Referentenentwurf bis zum 3. März 2023 abgeben. Die Umsetzungsfrist lief bereits am 25. Dezember 2022 ab, das neue Instrument der Verbandsabhilfeklage muss aber erst ab 25. Juni 2023 Anwendung finden. Einzelne Aspekte, etwa das Erfordernis der Gleichartigkeit von Ansprüchen, der Umfang der Verjährungshemmung und die Ermittlung des zu zahlenden Kollektivbetrags, dürften noch Gegenstand rechtspolitischer Diskussion werden.

Sofern der Entwurf im Wesentlichen in der aktuellen Form verabschiedet wird, schafft er ein Klagemodell, das für (vermeintlich) Geschädigte und ihre Dienstleister attraktiver sein wird als die bisher vorgesehenen gesetzlichen Rechtsschutzinstrumente. Mit einer Zunahme von entsprechenden Klagen ist daher zu rechnen. Jedoch bewahrt der Entwurf Augenmaß, geht nicht wesentlich über die Mindestvorgaben der Richtlinie hinaus und fügt sich insgesamt in das System des geltenden Rechts ein. Allerdings können Sammelinkassoklagen, bei denen Ansprüche an ein Klagevehikel abgetreten werden, sowie massenhaft erhobene Individualklagen auch weiterhin parallel erhoben werden. Sie werden durch die neuartige Abhilfeklage nicht ausgeschlossen und werden wohl auch weiter relevant bleiben.

 

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