Der vom Bundesministerium der Justiz am 25. April 2023 veröffentlichte Referentenentwurf zu einem „Justizstandort-Stärkungsgesetz“ hat sich zum Ziel gesetzt, den Justizstandort Deutschland für Wirtschaftsstreitigkeiten attraktiver zu machen. Dieses Ziel soll durch die Einrichtung sogenannter „Commercial Courts“, die Einführung von Englisch als Gerichtssprache sowie weitere Änderungen des Zivilverfahrensrechts erreicht werden. Dabei orientiert sich der Referentenentwurf in weiten Teilen an den Vorzügen der Schiedsgerichtsbarkeit. Hintergrund des Gesetzesvorhabens ist die Tatsache, dass ein großer Teil der (internationalen) Wirtschaftsstreitigkeiten inzwischen vor Schiedsgerichten oder vor ausländischen Gerichten ausgetragen wird.
Der Referentenentwurf ist ein begrüßenswerter erster Schritt zu einem moderneren und interessengerechteren Verfahren vor den deutschen staatlichen Gerichten. Schiedsverfahren bleiben jedoch eine wichtige Alternative zu staatlichen Gerichtsverfahren und sollten nicht als Konkurrenz betrachtet werden. Um den Justizstandort Deutschland für internationale Wirtschaftsstreitigkeiten attraktiver zu machen, sollten die im Referentenentwurf vorgesehenen Änderungen des Verfahrensrechts zudem durch weitere Maßnahmen ergänzt werden.
Im Folgenden stellen wir die angedachten Neuerungen im Überblick vor:
1. Neuer spezieller Spruchkörper – der „Commercial Court”
Die erste Säule des Referentenentwurfs ist die Ermächtigung der Länder, mit den sog. Commercial Courts spezielle Spruchkörper bei den Oberlandesgerichten einzurichten, die erstinstanzlich über bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Unternehmern mit einem Streitwert ab EUR 1 Million entscheiden können (§ 119b Abs. 1 GVG-E). Dabei können mehrere Länder vereinbaren, einen gemeinsamen Commercial Court einzurichten, der länderübergreifend zuständig ist (§ 119 b Abs. 5 GVG-E). Die Länder können die Zuständigkeit zudem auf bestimmte Sachgebiete bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten, wie zum Beispiel Post-M&A-Streitigkeiten, beschränken.
Mit den Commercial Courts soll eine größere Spezialisierung der Gerichte und Konzentration fachlicher Expertise im Bereich von Wirtschaftsstreitigkeiten erreicht werden, was sehr zu begrüßen ist. Wünschenswert wäre, wenn der Zuständigkeitsbereich der Commercial Courts im weiteren Gesetzgebungsverfahren weiter gefasst und sowohl die Beschränkung auf Rechtsstreitigkeiten zwischen Unternehmern also auch die Streitwertgrenze aufgehoben würden. Denn an Wirtschaftsstreitigkeiten sind häufig nicht nur Unternehmer beteiligt, sondern (ehemalige) Gesellschafter, Vorstände und Geschäftsführer. Die Aufgabe der Streitwertgrenze könnte helfen, dass die Commercial Courts gerade am Anfang die erforderliche Expertise und Erfahrung aufbauen. Zudem ist der Streitwert allein nicht immer geeignet, um Wirtschaftsstreitigkeiten, für die spezialisierte Commercial Courts prädestiniert wären, von anderen Streitigkeiten abzugrenzen.
Die Zuständigkeit der Commercial Courts wird nach § 119b Abs. 2 GVG-E durch ausdrückliche oder stillschweigende Vereinbarung der Parteien begründet, wobei auch eine rügelose Einlassung möglich sein soll.
Soll der Commercial Court erstinstanzlich entscheiden, muss der Kläger dies unter Darlegung der entsprechenden Parteivereinbarung in der Klageschrift beantragen (§ 619 Abs. 2 ZPO-E). Fehlt eine Vereinbarung, kann er das Verfahren beim Landgericht anhängig machen und in der Klageschrift die Verweisung an den Commercial Court beantragen. Das Landgericht kann das Verfahren an den Commercial Court verweisen, wenn der Beklagte dem innerhalb der Klageerwiderungsfrist ausdrücklich zustimmt (§ 620 ZPO‑E).
Im Verfahren selbst gelten die Vorschriften zum landgerichtlichen Verfahren mit Ausnahme der Vorschriften zum Einzelrichter. Das bedeutet, dass der gesamte Senat entscheiden muss (§ 619 Abs. 1 ZPO-E), was sicherlich zur Qualität der Entscheidungen beitragen wird.
Entscheiden sich die Parteien trotz sachlicher Zuständigkeit des Commercial Court für ein Verfahren vor dem Landgericht, sollen die Länder dem Commercial Court die Zuständigkeit für die Berufung und Beschwerde gegen die Entscheidung zuweisen können (§ 119b Abs. 3 GVG-E).
Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Commercial Court ist die Revision. Die Revision gegen Urteile im ersten Rechtszug bedarf keiner Zulassung (§ 623 ZPO-E). Die damit vorgesehene Verkürzung des Instanzenzugs geht deutlich über das hinaus, was bislang bei den in einigen Bundesländern eingeführten speziellen, teilweise auch als Commercial Court bezeichneten, Kammern für Wirtschaftsstreitigkeiten an den Landgerichten möglich ist.
2. Englisch als Gerichtssprache
Die zweite Säule des Entwurfs ist die geplante Ermächtigung der Länder, englischsprachige Verfahren in bestimmten bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zwischen Unternehmern zu ermöglichen (§ 184a GVG-E). Der Entwurf begründet die Möglichkeit einer englischen Verhandlung und Entscheidung an ausgewählten Gerichten, und zwar
- den sogenannten „Commercial Chambers“ (d. h. den von den Ländern ausgewählten Kammern der Landgerichte),
- den für Berufung und Beschwerde gegen Entscheidungen der Commercial Chambers zuständigen Senaten der Oberlandesgerichte und
- den Commercial Courts.
Voraussetzung ist, dass die Parteien ausdrücklich Englisch als Gerichtssprache vereinbaren oder der Beklagte die Sprachwahl nicht bis zum Ende der Klageerwiderungsfrist rügt. Bei entsprechender Vereinbarung oder fehlendem Widerspruch soll sogar bilingual verhandelt werden können (§ 184a Abs. 3 S. 2 GVG-E).
Auch hier wäre es sinnvoll, wenn der Anwendungsbereich im weiteren Gesetzgebungsverfahren erweitert und die Beschränkung auf Rechtsstreitigkeiten zwischen Unternehmern aufgehoben würde. Dies wird jedenfalls dann erforderlich, wenn die Eckpunkte des Bundesministeriums der Justiz zur Modernisierung des deutschen Schiedsverfahrensrechts vom 18. April 2023 umgesetzt und die englische Verfahrensführung für Schiedssachen nach § 1062 ZPO ermöglicht wird. Denn an Schiedsverfahren sind häufig natürliche Personen beteiligt, die nicht immer Unternehmer sind (z. B. in Post-M&A-Streitigkeiten, an denen der ehemalige Gesellschafter als Verkäufer beteiligt ist).
Die Einleitung eines englischsprachigen Verfahrens erfolgt durch Einreichung einer englischsprachigen Klageschrift, wobei ggf. die Sprachwahl-Vereinbarung dargelegt werden soll (§ 615 ZPO-E). Sofern erforderlich, kann in jedem Stadium des Verfahrens ein Dolmetscher oder Übersetzer hinzugezogen werden. Englischsprachige Urkunden müssen nicht übersetzt werden, deutschsprachige nur auf Antrag.
Die Entscheidung in englischsprachigen Verfahren ergeht ebenfalls grundsätzlich in englischer Sprache. Vorgesehen ist jedoch eine zwingende deutsche Übersetzung, insbesondere damit die Entscheidungen in Deutschland vollstreckt werden können. Die Entscheidungen werden veröffentlicht, bei nichtöffentlichen Verfahren unter Beachtung schutzwürdiger Einzelheiten (§ 617 ZPO-E).
Rechtsmittelschriften gegen Entscheidungen in englischsprachigen Verfahren sind ebenfalls grundsätzlich in Englisch einzureichen (§ 618 Abs. 1 ZPO-E). Dies soll jedoch nicht für den Bundesgerichtshof gelten. Dieser soll als Revisions- und Beschwerdegericht auf Antrag nach freiem Ermessen entscheiden können, ob er die Verfahrensführung in englischer Sprache zulässt (§ 618 Abs. 2 ZPO-E).
Der Referentenentwurf geht hinsichtlich der Verfahrenssprache ebenfalls deutlich über die Möglichkeiten der teils bereits eingerichteten speziellen Kammern für Wirtschaftsstreitigkeiten an den Landgerichten hinaus, die lediglich die mündliche Verhandlung oder Zeugenvernehmung in englischer Sprache führen dürfen, während Schriftsätze und Entscheidungen weiterhin in deutscher Sprache abgefasst sein müssen.
Die Möglichkeit, das Gerichtsverfahren vollständig in englischer Sprache zu führen, ist als Signal für eine Internationalisierung der staatlichen Justiz sehr zu begrüßen. Allerdings bleibt abzuwarten, ob hierfür in der Praxis tatsächlich großer Bedarf besteht. Denn das Verfahren darf ohnehin nur von in Deutschland zugelassenen Rechtsanwälten geführt werden und nach unserer Erfahrung haben Mandanten nur selten den Wunsch, das gesamte Gerichtsverfahren in englischer Sprache verfolgen zu können. Wichtig ist dagegen, dass die Qualität des Verfahrens und der Entscheidung aufgrund der fremden Sprache nicht leidet.
3. Verfahrensneuerungen
Schließlich sieht der Entwurf weitere Änderungen des Zivilverfahrensrechts vor, die sich vor allem an der bewährten Praxis in Schiedsverfahren orientieren.
- Vor dem Commercial Court: Organisationstermin und Wortprotokoll
Nach dem Vorbild einer Case-Management-Konferenz im Schiedsverfahren soll der Commercial Court mit den Parteien so früh wie möglich in einem Organisationstermin die Organisation und den Ablauf des Verfahrens klären (§ 621 ZPO-E). Nach § 139 Abs. 1 S. 3 ZPO war den Gerichten ein entsprechendes Vorgehen bereits vorher möglich, mit § 621 ZPO-E soll es für den Commercial Court jedoch verpflichtend werden. Dies ermöglicht sowohl dem Gericht als auch den Parteien eine effiziente Verfahrensführung und ggf. frühzeitige Weichenstellungen für das Verfahren.
Darüber hinaus wird auf übereinstimmenden Antrag der Parteien das Protokoll als live mitlesbares Wortlautprotokoll geführt (§ 622 ZPO-E). Begrüßenswert wäre, wenn die Parteien alternativ auch die Möglichkeit hätten, ein einfaches Wortprotokoll zu vereinbaren.
- Vor allen Gerichten: Geheimhaltung
Zudem enthält der Entwurf eine Regelung zum Geheimnisschutz, die alle Gerichte
(d. h. nicht nur Commercial Courts oder andere englischsprachige Spruchkörper) betrifft.
Gemäß § 273a ZPO-E werden alle Spruchkörper in die Lage versetzt, auf Antrag Geschäftsgeheimnisse als geheimhaltungsbedürftig einzustufen. In der Folge gelten die §§ 16 bis 20 des Geschäftsgeheimnisschutzgesetzes entsprechend. Wie in Geschäftsgeheimnisstreitsachen trifft dann sämtliche Verfahrensbeteiligte ab Anhängigkeit der Klage die Pflicht, als geheimhaltungs-bedürftig eingestufte Informationen vertraulich zu behandeln und außerhalb des gerichtlichen Verfahrens nicht zu nutzen oder offenzulegen, sofern sie nicht auch außerhalb des Verfahrens Kenntnis von ihnen erlangt haben. Diese Pflicht gilt grundsätzlich auch nach dem Verfahren fort.
Bei Zuwiderhandlung kann das Gericht ein Ordnungsgeld bis zu EUR 100.000 oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten festsetzen und sofort vollstrecken. Daneben ist es dem Gericht möglich, auf Antrag den Zugang zu Verfahrensunterlagen und
-informationen auf eine bestimmte Anzahl von zuverlässigen Personen zu beschränken und im Übrigen, insbesondere im Rahmen der mündlichen Verhandlung, die Öffentlichkeit auszuschließen.
Fazit
Mit Umsetzung des Referentenentwurfs könnte die Attraktivität der staatlichen Gerichte für Wirtschaftsstreitigkeiten steigen. Sollte der Referentenentwurf Gesetz werden, würde den Bundesländern durch den Bundesgesetzgeber erstmalig flexible und bedarfsgerechte Optionen an die Hand gegeben. Dabei wird es jedoch maßgeblich darauf ankommen, ob und ggf. wie die einzelnen Bundesländer von den dann neu entstehenden Möglichkeiten Gebrauch machen werden. Zu begrüßen wäre es vor allem, wenn die Bundesländer sich hinsichtlich der Einrichtung von Commercial Courts umfassend abstimmen würden. Denn es könnte beispielsweise sinnvoll sein, wenn es nur wenige Commercial Courts pro Spezialgebiet mit länderübergreifender Zuständigkeit geben würde, damit diese eine möglichst hohe Spezialisierung und entsprechende Reputation entwickeln können.
Um den Justizstandort Deutschland auch für internationale Wirtschaftsstreitigkeiten attraktiver zu machen, ist zudem nicht allein das Verfahrensrecht in den Blick zu nehmen, sondern auch das materielle Recht. Insbesondere die AGB-Kontrolle im Rechtsverkehr zwischen Unternehmen ist wohl einer der Hauptgründe, warum Parteien sich gegen die Wahl deutschen materiellen Rechts und als Folge gegen einen deutschen Gerichtsstand entscheiden. Hier sollte der Gesetzgeber im nächsten Schritt ansetzen, um Deutschland als Rechts- und damit als Wirtschaftsstandort international zu stärken.