„Die Art. 3, 5 und 6 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sind im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie von Art. 4 Abs. 1, Art. 11 Abs. 3 und Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die nach ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte die Arbeitgeber nicht verpflichtet, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.“
EuGH, Urteil vom 14.5.2019 – C-55/18
Ausgangsverfahren
Im Ausgangsverfahren hatte die CCOO, eine spanische Arbeitnehmervereinigung, die Deutsche Bank vor der Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof, Spanien) mit dem Argument verklagt, dass die Deutsche Bank zur Einrichtung eines Systems zur Erfassung der geleisteten täglichen Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter verpflichtet sei. Nach Auslegung des spanischen Rechts durch das Tribunal Supremo (Oberstes Gericht Spanien), so verteidigte sich die Deutsche Bank, sei sie nur zur Erfassung geleisteter „Überstunden“ verpflichtet, ähnlich der Situation in Deutschland. Der Nationale Gerichtshof bezweifelte, dass die Auslegung des Obersten Gerichts mit dem Unionsrecht vereinbar ist, und rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an.
Entscheidung des EuGH
Nach dem Urteil des EuGH müssen die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber zur Einrichtung eines „objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems“ verpflichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit jedes Arbeitnehmers gemessen werden kann. Die Auslegung des spanischen Rechts durch das Oberste Gericht verstoße gegen die – im Lichte der EU-Grundrechtecharta und der Richtlinie 89/391/EWG auszulegende – Arbeitszeitrichtlinie.
Der EuGH betont zunächst die Bedeutung des Grundrechts eines jeden Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf Ruhezeiten, das in der Art. 31 Abs. 2 der Charta verbürgt sei und dessen Inhalt durch die Arbeitszeitrichtlinie weiter präzisiert werde. Die Mitgliedstaaten müssten alle erforderlichen Maßnahmen treffen, dass den Arbeitnehmern die ihnen verliehenen Rechte zugutekommen. Die gewählten Maßnahmen dürften diese Rechte inhaltlich nicht aushöhlen. Insoweit sei auch zu berücksichtigen, dass der Arbeitnehmer die schwächere Partei des Arbeitsvertrags sei.
Ohne ein System, so der EuGH, mit dem die tägliche Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen werden kann, könnten weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden, so dass es für die Arbeitnehmer äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich sei, ihre Rechte durchzusetzen.
Eine nationale Regelung, die keine Verpflichtung zu einer derartigen Arbeitszeiterfassung vorsieht, könne das Ziel der Arbeitszeitrichtlinie gefährden, einen besseren Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Dagegen stelle ein derartiges Arbeitszeiterfassungssystem für die Arbeitnehmer nach Ansicht des EuGH ein besonders wirksames Mittel dar, einfach an objektive und verlässliche Daten über die tatsächlich geleistete Arbeitszeit zu gelangen. Ein solches System erleichtere auch den zuständigen Behörden und nationalen Gerichten die Kontrolle der tatsächlichen Einhaltung der durch die Arbeitszeitrichtlinie verliehenen Rechte der Arbeitnehmer sowie den Arbeitnehmervertretern die Erfüllung ihrer besonderen Funktion im Zusammenhang mit Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer.
Es obliege den Mitgliedstaaten im Rahmen des ihnen insoweit eröffneten Spielraums, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems, insbesondere dessen Form, festzulegen und dabei gegebenenfalls den Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, sogar den Eigenheiten bestimmter Unternehmen, namentlich deren Größe, Rechnung zu tragen. Dies gelte unbeschadet von Art. 17 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie, wonach Ausnahmen u.a. von den Artikeln 3 bis 6 der Arbeitszeitrichtlinie zulässig sind, „wenn die Dauer der Arbeitszeit aufgrund der besonderen Merkmale der betreffenden Tätigkeit nicht gemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann". Der EuGH weist auch explizit auf das Erfordernis einer europarechtskonformen Auslegung bei der Auslegung des nationalen Rechts durch nationale Gerichte hin.
Gleiss Lutz Kommentar
Das deutsche Recht regelt – ähnlich dem spanischen Recht – in § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 S. 1 ArbZG hinausgehende Arbeitszeit (= acht Stunden überschreitende Arbeitszeit, Sonn- und Feiertagsarbeit) der Arbeitnehmer aufzuzeichnen. Nicht aufzuzeichnen ist demgegenüber die Arbeitszeit von Personen, die nicht in den Geltungsbereich des Arbeitszeitgesetzes fallen, wie z.B. von leitenden Angestellten i.S.d. § 5 Abs. 3 BetrVG (vgl. § 18 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG). Eine darüberhinausgehende Verpflichtung zur Aufzeichnung der Arbeitszeit findet sich grundsätzlich nicht. Ausnahmen gelten nur für bestimmte Bereiche (vgl. insb. § 21a ArbZG für Berufskraftfahrer und § 17 MiLoG). Zudem können nach Rechtsprechung des BAG Unterrichtungspflichten gegenüber dem Betriebsrat nach § 80 Abs. 2 BetrVG weitergehende Aufzeichnungen notwendig machen.
Die EU-Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) schreibt keine Aufzeichnungspflichten für die gesamte Arbeitszeit vor. Die EU-Arbeitszeitrichtlinie wurde auch bisher so nicht ausgelegt. Nunmehr verlangt der EuGH unter Berufung auf die Europäische Arbeitszeitrichtlinie die Installierung eines Systems, mit dem die gesamte Arbeitszeit der Arbeitnehmer gemessen werden kann.
Der EuGH verlangt keine Aufzeichnungspflicht des Arbeitgebers, sondern die Einrichtung eines „objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems“, mit denen die Arbeitszeit aufgezeichnet werden kann. Eine bestimmte Form der Arbeitszeiterfassung, bspw. per Stempeluhrkarte, per Smartphone-App oder schlicht per Stundenzetteln, wird damit vom EuGH nicht vorgeschrieben.
Das Urteil des EuGH gilt nicht unmittelbar für deutsche Arbeitsverhältnisse. Das ArbZG kann u.E. auch nicht im Sinne der EuGH-Entscheidung ausgelegt werden. Aufgrund des klaren Wortlauts des § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG sehen wir keine Möglichkeit einer entsprechenden europarechtskonformen Auslegung. Der deutsche Gesetzgeber muss agieren und das Arbeitszeitgesetz ändern. Das EuGH-Urteil dürfte also zum jetzigen Zeitpunkt keine zusätzlichen Pflichten für Arbeitgeber in Deutschland begründen. Erst wenn der deutsche Gesetzgeber das ArbZG angepasst hat, wird deutlich werden, ob und welcher Änderungsbedarf für bestehende Zeiterfassungssysteme oder etwaige Betriebsvereinbarungen zur Arbeitszeit besteht. Nicht selten existieren in Unternehmen Zeiterfassungssysteme, die an Lohnabrechnungssysteme und damit an die vergütungsrechtliche Arbeitszeit geknüpft sind. Damit wird jedoch nicht in jedem Fall automatisch die relevante arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit erfasst, weil diese nicht zwingend der vergütungsrechtlichen entspricht.
Allerdings besteht die Gefahr, dass Arbeitsgerichte – über den klaren Wortlaut des § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG hinaus – die EuGH-Rechtsprechung ins nationale Gesetz hineinlesen. Ob dies passiert, bleibt abzuwarten.
Vergütungsseitig besteht das Risiko, dass Arbeitnehmer tendenziell Mehrarbeit leichter nachweisen können. Insoweit sollten Unternehmen prüfen, ob Anpassungsbedarf besteht im Hinblick auf die Abgeltung von Überstunden, bspw. durch entsprechende Regelungen im Arbeitsvertrag.