Arbeitsrecht

Erleichterung für Arbeitgeber bei Massenentlassungsanzeigen?

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat zum Individualschutz der Massenentlassungsrichtlinie entschieden. Bislang haben Fehler im Konsultations- bzw. Massenentlassungsverfahren nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) meist die Unwirksamkeit späterer Kündigungen zur Folge. Der EuGH hat hierzu nun – jedenfalls für einen bestimmten Fehler – eine abweichende Auffassung vertreten. Wir stellen die Entscheidung vor.

EuGH, Urteil vom 13. Juli 2023, Az.: C-134/22

Kontext

Beabsichtigen Arbeitgeber einen umfangreichen Personalabbau, sind sie gemäß § 17 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) verpflichtet, ein Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat durchzuführen. Zudem ist gemäß § 17 Abs. 1 KSchG eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit zu erstatten. Nach der Rechtsprechung des BAG ist bei formalen Fehlern im Rahmen des Konsultations- bzw. des Massenentlassungsverfahrens regelmäßig ein Schutzgesetz i.S.d. § 134 BGB verletzt. Das führt zur Unwirksamkeit der im Rahmen des Personalabbaus ausgesprochenen Kündigungen. Durch die Entscheidung des EuGH könnte sich die Rechtsprechung des BAG nun ändern.

Sachverhalt

Im Jahr 2019 wurde über das Vermögen der Arbeitgeberin das Insolvenzverfahren eröffnet. Im Jahr 2020 wurde beschlossen, die Geschäftstätigkeit der Arbeitgeberin einzustellen und alle Arbeitnehmer zu entlassen. Der Insolvenzverwalter teilte dem Betriebsrat im Rahmen des Konsultationsverfahrens die gemäß § 17 Abs. 2 KSchG erforderlichen Informationen schriftlich mit. Er leitete jedoch – entgegen der Regelung in § 17 Abs. 3 KSchG – der zuständigen Agentur für Arbeit keine Abschrift dieser Mitteilung zu. Kurz darauf erstattete der Insolvenzverwalter bei der zuständigen Agentur für Arbeit eine Massenentlassungsanzeige. Sodann kündigte er die betroffenen Arbeitsverhältnisse.

Der Kläger im Ausgangsverfahren wandte sich gegen die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses. Er hielt die Kündigung wegen eines Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 KSchG für unwirksam. Die Klage blieb in der ersten und zweiten Instanz erfolglos. Das BAG hatte Zweifel an der Auslegung von Art. 2 Absatz 3 Unterabschnitt 2 der RL 98/59 (Massenentlassungsrichtlinie – MERL), der in § 17 Abs. 3 KSchG in nationales Recht umgesetzt wurde. Konkret zweifelte das BAG daran, ob Art. 2 Absatz 3 Unterabschnitt 2 MERL dem Arbeitnehmer nach seinem Sinn und Zweck Individualschutz gewährt. Es legte dem EuGH eine entsprechende Frage zur Vorabentscheidung vor.

Entscheidung

Der EuGH hat entschieden, dass Art. 2 Absatz 3 Unterabschnitt 2 MERL, der in § 17 Abs. 3 KSchG in nationales Recht umgesetzt wurde, keinen Individualschutz gewährt.

Der EuGH stellt klar, dass das Konsultationsverfahren einerseits und das Massenentlassungsverfahren andererseits zwei voneinander abzugrenzende Verfahrensstadien mit unterschiedlicher Zielsetzung sind. Sowohl die Mitteilung der in Art. 2 Absatz 3 MERL vorgesehenen Informationen an die Arbeitnehmervertreter als auch deren Zuleitung an die zuständige Behörde sind systematisch dem Konsultationsverfahren zuzuordnen.

Sinn und Zweck des Konsultationsverfahrens sei es, Kündigungen von Arbeitsverträgen zu vermeiden sowie ihre Folgen zu mildern. Dabei steht nicht der individuelle Arbeitnehmer im Fokus, sondern die Arbeitnehmer als Gemeinschaft. Der Ausspruch von Kündigungen ist in diesem Stadium nicht gewiss, sondern lediglich beabsichtigt. Während die Arbeitnehmervertreter im Konsultationsverfahren ggf. über dynamische Entwicklungen der mitgeteilten Informationen auf dem Laufenden zu halten sind, erhält die zuständige Behörde die Mitteilung nur einmalig. Sie soll sich dadurch einen ersten Überblick über die Eckdaten der beabsichtigten Entlassungen verschaffen können.

Der EuGH stellt weiter klar, dass der zuständigen Behörde im Stadium des Konsultationsverfahrens keine aktive Rolle zukommt. Die Zuleitung der an die Arbeitnehmervertreter übermittelten Informationen hat einen Informations- und Vorbereitungszweck. Sie löst noch keine Handlungspflichten für die Behörde oder den Lauf einer Frist für den Arbeitgeber aus. Erst im Verfahren der Massenentlassung hat die Behörde eine aktive Rolle. Sie hat Lösungen für die negativen Folgen der Massenentlassung unter Berücksichtigung der Gegebenheiten des Arbeitsmarkts zu suchen.

Vor diesem Hintergrund sei Art. 2 Absatz 3 Unterabschnitt 2 MERL so auszulegen, dass die Vorschrift keinen Individualschutz gegenüber gekündigten Arbeitnehmern entfaltet. Eine Kündigung ist nicht deshalb unwirksam, weil die Zuleitung der Informationen im Konsultationsverfahren an die zuständige Behörde unterblieben ist.

Praxishinweise

  • Die Entscheidung des EuGH bezieht sich unmittelbar nur auf die Auslegung von Art. 2 Absatz 3 Unterabschnitt 2 MERL. Für die Rechtsprechung des BAG bedeutet das, dass jedenfalls § 17 Abs. 3 KSchG kein Schutzgesetz i.S.d. § 134 BGB ist, dessen Verletzung zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen führt.
     
  • Es ist fraglich, ob der Entscheidung auch eine allgemeine Aussage zum Individualschutz des Konsultations- und Massenentlassungsverfahrens zu entnehmen ist.
     
  • Das BAG hat mit Blick auf den Ausgang des hiesigen Vorabentscheidungsverfahrens ein weiteres Verfahren (Az.: 6 AZR 157/22) ausgesetzt. In diesem Verfahren hat der Insolvenzverwalter der Arbeitgeberin keine Massenentlassungsanzeige erstattet, da er diese nicht für erforderlich hielt. Sollte das BAG die Erwägungen des EuGH auf weitere Fehler im Massenentlassungsverfahren oder auf das vollständige Unterlassen einer Massenentlassungsanzeige übertragen, so wäre damit eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des BAG verbunden.
     
  • Denkbar ist auch, dass das BAG in dem ausgesetzten Verfahren den EuGH erneut um Vorabentscheidung ersucht. Die Erwägungen des EuGH im hiesigen Verfahren sind stark von der Systematik der MERL und dem Sinn und Zweck des jeweils betroffenen Verfahrensabschnitts geprägt. Sofern diese Argumentation nach Auffassung des BAG nicht ausreicht, um die Frage zu beantworten, ob die MERL Individualschutz auch im Stadium des Massenentlassungsverfahrens entfaltet, so könnte eine weitere Vorlage an den EuGH Klarheit bringen.
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