Arbeitsrecht

„Entlassung“ ist jede vom Arbeitnehmer „nicht gewollte“ Beendigung

Nach einem Urteil des EuGH vom 11. Juli 2024 (Az.: C-196/23) ist unter „Entlassung“ i.S.d. Richtlinie über Massenentlassungen (RL 98/59/EG) jede ohne Zustimmung des Arbeitnehmers vollzogene Beendigung des Arbeitsvertrags zu verstehen. Dementsprechend bestehen die entsprechenden Informations- und Konsultationspflichten gegenüber den Arbeitnehmervertretern auch dann, wenn Arbeitsverhältnisse aufgrund einer gesetzlichen Bestimmung (hier gemäß dem spanischen Recht: Eintritt des Arbeitgebers in den Ruhestand) enden und dabei der gesetzliche Schwellenwert für Massenentlassungen überschritten wird. Die Entscheidung kann auch für deutsche Arbeitgeber bedeutsam sein.

Sachverhalt

Ein Arbeitgeber beschäftigte in Spanien insgesamt 54 Arbeitnehmer in acht Betrieben. Im Juni 2020 teilte der Arbeitgeber, eine natürliche Person, den Arbeitnehmern mit, dass er in den Ruhestand eintreten werde und die Arbeitsverhältnisse wegen dieses Ereignisses beendet würden. Zum 3. August 2020 trat der Arbeitgeber in den Ruhestand ein. Die Arbeitsverhältnisse aller 54 Arbeitnehmer endeten. Ein Konsultationsverfahren aufgrund einer etwaigen Massenentlassung führte der Arbeitgeber nicht durch. 

Acht Arbeitnehmer eines Betriebes erhoben daraufhin Klage auf Feststellung, dass die Beendigung ihrer Arbeitsverhältnisse rechtswidrig war. Das Arbeits- und Sozialgericht Barcelona wies die Klage ab. In der zweiten Instanz musste deshalb das Obergericht Katalonien die Frage klären, ob die Beendigung der Arbeitsverhältnisse ohne vorheriges Konsultationsverfahren rechtmäßig erfolgen konnte. Nach dem spanischen Arbeitnehmerstatut endet ein Arbeitsverhältnis, wenn es sich beim Arbeitgeber um eine natürliche Person handelt, die in den Ruhestand tritt. Eine Konsultation der gesetzlichen Arbeitnehmervertreter, wie sie bei Massenentlassungen in Art. 51 des Arbeitnehmerstatuts vorgesehen ist, ist in diesen Fällen, unabhängig von der Anzahl der betroffenen Arbeitsverhältnisse, nach spanischem Recht nicht erforderlich. 

Das Obergericht zweifelte an der Vereinbarkeit dieser spanischen Regelung mit der Massenentlassungsrichtlinie der EU (RL 98/59/EG). Es setzte das Verfahren daher aus und legte dem EuGH die Frage vor, ob eine nationale Regelung, die im Falle einer Massenentlassung wegen Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand kein Konsultationsverfahren vorsehe, mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 der Massenentlassungsrichtlinie vereinbar ist. Für den Fall der Unvereinbarkeit wollte das Obergericht zudem wissen, ob die Massenentlassungsrichtlinie insoweit unmittelbare Wirkung zwischen Privatpersonen entfaltet, weil ihre Regelungen in Art. 27 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union („GRCh“) (Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen) oder 30 GRCh (Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung) verankert seien.

Entscheidung des EuGH 

In seiner Entscheidung vom 11. Juli 2024 verneint der EuGH die Vereinbarkeit der nationalen Norm mit der Massenentlassungsrichtlinie. Trotz der Unvereinbarkeit bestehe jedoch keine Pflicht des nationalen Gerichts, das Arbeitnehmerstatut unangewendet zu lassen. Dies stützt der EuGH im Wesentlichen auf die folgenden Feststellungen:

  • Der Begriff der Massenentlassung sei unionsweit einheitlich auszulegen. Hierbei sei eine weite Auslegung des Entlassungsbegriffes geboten, um dem mit der Richtlinie bezweckten Arbeitnehmerschutz gerecht zu werden. 
  • Art. 1 Abs. 1 Unterabsatz 1 Buchstabe a der Massenentlassungsrichtlinie umfasse jede vom Arbeitnehmer nicht gewollte – also ohne seine Zustimmung vollzogene – Beendigung des Arbeitsvertrags. Es sei irrelevant, ob der Arbeitgeber die Beendigung gewollt hat oder deren Umstände außerhalb des Arbeitgeberwillens liegen. Ebenso irrelevant sei, ob es sich bei dem Eintritt in den Ruhestand um ein für den Arbeitnehmer vorhersehbares Ereignis handelt. Das spanische Recht betrachtet die Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund des Eintritts des Arbeitgebers in den Ruhestand nicht als Entlassung, sondern als automatische Beendigung. Auch in diesem Fall sei jedoch ein Konsultationsverfahren durchzuführen. 
  • Das Konsultationsverfahren habe u.a. den Zweck, die Folgen solcher Entlassungen durch soziale Begleitmaßnahmen zu mildern, die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer zum Ziel haben. Dementsprechend sei eine Konsultation auch bei Eintritt des Arbeitgebers in den Ruhestand relevant. Hier sei der Arbeitgeber grundsätzlich in der Lage, die nach der Massenentlassungsrichtlinie geforderten Handlungen vorzunehmen und in diesem Zusammenhang Konsultationen durchzuführen, um insbesondere die Beendigungen zu vermeiden, ihre Zahl zu verringern oder jedenfalls ihre Folgen abzumildern. Etwas anderes könne nur dann gelten, wenn die Existenz des Arbeitgebers verloren geht, wie etwa im Falle des Todes des Arbeitgebers. Dann sei es ihm unmöglich, das Konsultationsverfahren durchzuführen und die beabsichtigten Entlassungen vorzunehmen.  
  • Dennoch sei das Unionsrecht nicht dahin auszulegen, dass das spanische Gericht verpflichtet sei, Art. 51 des Arbeitnehmerstatuts in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet zu lassen. Es sei Sache der nationalen Gerichte, über die Auslegung des nationalen Rechts zu befinden und zu entscheiden, ob die nationale Regelung so ausgelegt werden kann, dass sie mit der Massenentlassungsrichtlinie vereinbar ist. Weder Art. 27 GRCh noch Art. 30 GRCh könne geltend gemacht werden, um zu erreichen, dass das nationale Gericht eine nationale Regelung unangewendet lässt, die es als mit den Bestimmungen der Richtlinie unvereinbar erachtet. Sowohl Art. 27 GRCh als auch Art. 30 GRCh seien durch Unionsrecht oder nationales Recht zu konkretisieren, um ihre volle Wirksamkeit zu entfalten. Sie seien daher nicht dazu geeignet, der Massenentlassungsrichtlinie zu einer unmittelbaren Anwendung in einem Rechtsstreit zwischen Privaten zu verhelfen.

Gleiss Lutz kommentiert

Anders als nach spanischem Recht endet das Arbeitsverhältnis im deutschen Arbeitsrecht nicht automatisch mit dem Eintritt des Arbeitgebers in den Ruhestand. Vielmehr geht in einem solchen Fall das Arbeitsverhältnis von Gesetzes wegen mit allen Rechten und Pflichten auf die Erben über. Gleichwohl ist die Entscheidung für den deutschen Arbeitgeber wegen der weiten Auslegung des Entlassungsbegriffs durch den EuGH von Bedeutung. Eine Entlassung ist danach jede Beendigung des Arbeitsvertrags, die ohne Zustimmung des Arbeitnehmers vollzogen wird. Diese Auslegung liegt auf der Linie einer anderen Entscheidung des EuGH, nach der bei Auflösung der Arbeitsverhältnisse wegen Insolvenz ebenfalls ein Konsultationsverfahren durchzuführen ist (EuGH, Urteil vom 3. März 2011 − C-235–239/10). 

Die Ausweitung des Entlassungsbegriffs hat für deutsche Arbeitgeber zur Folge, dass vom Willen des Arbeitnehmers unabhängige Beendigungstatbestände auch dann von den Arbeitsgerichten als Entlassung i.S.d. § 17 KSchG angesehen werden könnten, wenn diese nach bisherigem Verständnis nicht unter den Anwendungsbereich des § 17 KSchG fallen. Dieses Risiko besteht z.B. für die Beendigungstatbestände der auflösenden Bedingung oder der Projektbefristung, wenn der Arbeitgeber das Projekt einseitig aufgibt. Ob im Streitfall mit Aussicht auf Erfolg argumentiert werden kann, dass der Abschluss des auflösend bedingten bzw. befristeten Vertrags im Einvernehmen mit dem Arbeitnehmer erfolgt ist, erscheint vor dem Hintergrund des vorliegenden Urteils des EuGH nicht sicher. Jedenfalls bis zu einer obergerichtlichen Klärung dieser Frage sollten Arbeitgeber in den betreffenden Fällen vorsorglich ein Konsultationsverfahren durchführen, falls die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG überschritten werden.

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