
Im Juni 2025 entscheidet die Mindestlohnkommission über eine Anpassung des Mindestlohns in Deutschland. Eine Anhebung auf EUR 15,27 pro Stunde halten manche unter Berufung auf die
EU-Mindestlohnrichtlinie (EU) 2022/2041 für zwingend. Diese Richtlinie könnte es jedoch schon bald nicht mehr geben: Der Generalanwalt am EuGH empfiehlt ihre Aufhebung aufgrund einer Überschreitung der EU-Gesetzgebungskompetenz.
Druck auf die Mindestlohnkommission
Nicht zuletzt bedingt durch den Wahlkampf war die Diskussion über eine Anhebung des deutschen Mindestlohns in letzter Zeit in vollem Gange. Auch die Spitzen der CDU/CSU und SPD sprechen sich nun in ihrem Anfang März 2025 veröffentlichten Sondierungspapier für eine „Entwicklung“ des Mindestlohns aus. Dabei liegt die Entscheidung über eine Anpassung nicht in den Händen des Gesetzgebers. Nach § 9 Abs. 1 MiLoG beschließt darüber alle zwei Jahre die mit Vertretern der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite sowie mit Mitgliedern aus Kreisen der Wissenschaft besetzte Mindestlohnkommission. Nachdem sie zuletzt 2023 eine zweistufige Anhebung des Mindestlohns beschlossen hat (EUR 12,41 zum 1. Januar 2024 und EUR 12,82 zum 1. Januar 2025), steht ihre nächste Entscheidung im Juni 2025 an.
Dass die Mindestlohnkommission sich in ihrer kommenden Entscheidung für eine weitaus höhere Anhebung aussprechen könnte, befürchten viele Arbeitgeber nicht zuletzt aufgrund des politischen Drucks. Im erwähnten Sondierungspapier wird eine Erhöhung auf EUR 15 im Jahr 2026 für erreichbar erachtet. Bereits im September 2024 wandte sich der damalige Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, in einem Brief an den Vorsitzenden der Mindestlohnkommission und forderte die Kommission auf, den Mindestlohn „kräftig zu erhöhen“. Den Presseberichten über den nicht veröffentlichten Brief lässt sich entnehmen, dass sich der Minister aufgrund der EU-Mindestlohnrichtlinie verpflichtet sieht, einen Mindestlohn in Höhe von 60 % des deutschen Bruttomedianlohns umzusetzen. In abgeschwächter Form findet sich die Forderung nun auch im Sondierungspapier wieder. Dort wird festgehalten, dass sich die Mindestlohnkommission unter anderem an 60 % des Bruttomedianlohns zu orientieren habe. Ob sich dieser Mindestwert tatsächlich verpflichtend aus der Richtlinie ergibt, wird in der rechtswissenschaftlichen Diskussion allerdings mit Verweis auf den Wortlaut von Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie bezweifelt. Danach „können“ (frz.: peuvent utiliser, eng: may use) sich die Mitgliedstaaten zwar am Bruttomedianlohn orientieren, müssen es aber nicht.
Schlussantrag des Generalanwalts beim EuGH
Die Diskussion über eine europäische Mindestvorgabe könnte sich schon bald erledigt haben. Der Generalanwalt am EuGH, Nicholas Emiliou, hat in seinem Schlussantrag vom 14. Januar 2025 gefordert, die EU-Mindestlohnrichtlinie aufzuheben. Anlass für dieses Votum war die von Dänemark geführte und von Schweden unterstützte Nichtigkeitsklage gegen die Richtlinie. Beide Länder befürchten, die Richtlinie könne ihre nationalen Systeme der Lohnfindung, die stark auf Tarifverhandlungen basieren, untergraben. Auch in Deutschland wurde in der Vergangenheit in Frage gestellt, ob es eines Mindestlohns in Branchen mit hoher Tarifbindung bedarf. Rechtlicher Ankerpunkt für das Votum des Generalanwalts war die Reichweite der EU-Gesetzgebungskompetenz. Im europäischen Recht gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EUV). Danach kann die EU Rechtsakte nur insoweit erlassen, als ihr durch die Verträge eine Gesetzgebungskompetenz eingeräumt ist. Kompetenzen für den Bereich des Arbeitsrechts werden der EU zwar unter anderem in Art. 153 AEUV zugewiesen. In Art. 153 Abs. 5 AEUV wird jedoch ausdrücklich festgehalten, dass sich diese Kompetenz nicht auf die Regelung des „Arbeitsentgelts“ erstreckt. Der Generalanwalt schloss sich nunmehr der Meinung an, dass Gegenstand der EU-Mindestlohnrichtlinie die Regelung des Arbeitsentgelts sei und es insoweit an der Gesetzgebungskompetenz der EU fehle. Er argumentiert, dass die Richtlinie trotz ihrer indirekten Herangehensweise faktisch in die Festsetzung von Löhnen eingreife und damit das Arbeitsentgelt regele.
Fazit und Ausblick
Der Schlussantrag des Generalanwalts ist nicht bindend. Eine endgültige Entscheidung des Gerichts wird im Laufe des Jahres 2025 erwartet. Der EuGH folgt in etwa 75 % der Fälle dem Schlussantrag des Generalanwalts. Dementsprechend bleibt abzuwarten, wie der EuGH entscheidet. Dasselbe gilt für die eventuellen Folgen für den Mindestlohn. In Staaten mit niedrigen Löhnen und geringer Tarifbindung könnte die Aufhebung erhebliche Auswirkungen auf die Sozialpolitik haben. Obwohl die Notwendigkeit eines flächendeckenden Mindestlohns wegen der damit verbundenen Schwächung der Tarifautonomie in Zweifel gezogen werden könnte, dürfte eine (teilweise) Abschaffung des MiLoG unwahrscheinlich sein. Es ist vielmehr damit zu rechnen, dass die Mindestlohnkommission nach einer eventuellen Aufhebung allein auf Basis der in § 9 Abs. 2 MiLoG festgelegten Grundsätze und ohne Rücksicht auf die EU-Richtlinie über eine mögliche Anhebung entscheidet. Gemäß dieser Regelung hat die Kommission eine Gesamtabwägung zu treffen, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden. Aufgrund der Pläne im Sondierungspapier und des drohenden Wegfalls der Richtlinie scheint es nicht ausgeschlossen, dass eine mögliche schwarz-rote Regierung sich nach Abschluss der nun anstehenden Koalitionsgespräche für eine Erweiterung dieser nationalen Abwägungskriterien einsetzt. Ob die Gesamtabwägung der Mindestlohnkommission tatsächlich zu einer „kräftigen Erhöhung“ führt, wird sich zeigen.
