Arbeitsrecht

BAG: Kein Auskunftsanspruch des Betriebsrats über gewerkschaftliche Mehrheitsverhältnisse im Betrieb

Der Erste Senat des BAG hat mit Beschluss vom 30. April 2024 (Az.: 1 ABR 10/23) entschieden, dass es für gewerkschaftliche Mehrheitsverhältnisse in einem Betrieb im Fall einer aufzulösenden Tarifkollision nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG auf den Zeitpunkt des Abschlusses des letzten kollidierenden Tarifvertrags ankommt. Nicht relevant ist das Datum eines etwaigen rückwirkenden Inkrafttretens eines Tarifvertrags.

Sachverhalt

Die Parteien streiten um einen Auskunftsanspruch des klagenden Betriebsrates im Rahmen der Tarifkollision. Die beklagte Arbeitgeberin ist Mitgliedsunternehmen des Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbands der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister eV (AGV MOVE) und unterhält verschiedene Betriebe des Schienennahverkehrs. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) sowie die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) schlossen mit der AGV MOVE eine Vielzahl von Tarifverträgen ab. Eine Tarifkonkurrenz wurde bis zum Ende 2020 durch einen gemeinsamen Verzicht auf § 4a TVG verhindert. Nach Ende des Verzichts informierte die Arbeitgeberin den Betriebsrat über die zukünftig alleinige Anwendung der Tarifverträge der Mehrheitsgewerkschaft. Zur Durchführung eines Notarverfahrens, um die Mitgliederzahl der GDL zu ermitteln, kam es aufgrund der Verweigerung der GDL nicht. Die Arbeitgeberin bestimmte sodann die Mehrheitsverhältnisse im Betrieb anhand der Ergebnisse der Betriebsratswahl im Jahr 2018, der ihr vorliegenden Tarifbindungsanzeigen und der durch ein Notarverfahren ermittelten Mitgliederzahl der EVG. 

Vor dem ArbG Hannover und dem LAG Niedersachsen begehrte der Betriebsrat vergeblich Auskunft von der Arbeitgeberin über die Tatsachen und Wertungen, auf der die Feststellung der Mehrheitsverhältnisse zum Stichtag 1. Januar 2021 basierten. Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgte der Betriebsrat sein Begehren vor dem BAG weiter.

Die Entscheidung 

Die Rechtsbeschwerde hatte keinen Erfolg.

  • Ein Informationsanspruch des Betriebsrates folge nicht aus § 80 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 BetrVG. Anspruchsvoraussetzung sei nach dieser Vorschrift zum einen, dass überhaupt eine Aufgabe des Betriebsrats gegeben, und zum anderen, dass im Einzelfall die verlangte Information zur Wahrnehmung der Aufgabe erforderlich ist. Dem Betriebsrat sei es jedoch nicht gelungen, den hinreichenden Aufgabenbezug sowie die Erforderlichkeit der Informationsgewinnung zur Wahrnehmung der Aufgaben darzulegen. 
  • Die Einhaltung von § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG zu überwachen, sei keine Aufgabe des Betriebsrats i.S.v. § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG. § 4a TVG sei kein zugunsten der Arbeitnehmer geltendes Gesetz im Sinne eines konkreten Ge- oder Verbots. Die Norm ziele darauf ab, die „Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion sowie Ordnungsfunktion von Rechtsnormen des Tarifvertrags“, also die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie, zu sichern. Sie bezwecke den Schutz des tarifgebundenen Arbeitgebers in einem tarifpluralen Betrieb. Der Vortrag des Betriebsrates, er benötige die Informationen, um den Arbeitnehmern Auskünfte zur Anwendung von Tarifverträgen zu erteilen und weitere Aufgaben aus § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG „verantwortungsvoll und kompetent zu erfüllen“, lasse ebenfalls keine betriebsverfassungsrechtlichen Aufgaben erkennen. 
  • Zudem habe der Betriebsrat die Erforderlichkeit der begehrten Information nicht dargelegt. Aus einer vorgelegten Liste des Betriebsrates zu kollidierenden Tarifverträgen folge, dass der vorgebrachte Stichtag für die Ermittlung der Mehrheitsverhältnisse nicht relevant sei. Da am 24. Februar 2022 zahlreiche Tarifverträge neu abgeschlossen wurden, seien Auskünfte zum Stichtag 1. Januar 2021 nicht erforderlich. Nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG seien im Fall kollidierender Tarifverträge im Betrieb nur die Rechtsnormen des Mehrheitstarifvertrags anwendbar, also des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft, die „zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat“. Die gewerkschaftlichen Mehrheitsverhältnisse seien daher jeweils zu dem Zeitpunkt zu bestimmen, in dem der letzte kollidierende Tarifvertrag schriftlich abgeschlossen wurde. Aufgrund des eindeutigen Wortlauts von § 4a Abs. 2 S. 2 TVG sei hingegen nicht das Datum, zu dem der Tarifvertrag (rückwirkend) in Kraft getreten ist, entscheidend. Kollidieren die Tarifverträge erst zu einem späteren Zeitpunkt, komme es nach § 4a Abs. 2 Satz 3 TVG auf diesen an.
  • Ein Auskunftsanspruch über vergangene Umstände stehe dem Betriebsrat im Regelfall nicht zu. Denn die Überwachungsaufgabe gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG sei gegenwarts- und zukunftsbezogen. Mehrheitsverhältnisse seien nach dem Gesetz daher immer nur so lange relevant, bis ein weiterer Tarifabschluss eine neue Tarifkollision auslöst. Als Abschluss gelte auch die Änderung eines bestehenden Tarifvertrages. Ein Auskunftsanspruch des Betriebsrates ergebe sich daher auch nicht aus der Aufgabe der Mitbeurteilung der Eingruppierung nach § 99 BetrVG. Obwohl der Betriebsrat ein Recht zur Rüge der unzutreffenden Eingruppierung nach § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG habe, sei der in den Anträgen genannte Stichtag überholt. 
  • Die Erforderlichkeit der gewünschten Informationen zu Tarifbindungsanzeigen von betriebsangehörigen Arbeitnehmern bzw. der subjektiven Bewertung des Arbeitgebers einer im Betrieb erfolgten Betriebsratswahl im Jahre 2018 sei ebenfalls zu verneinen, weil es für die Ermittlung der Mehrheitsgewerkschaft nach § 4a Abs. 2 TVG darauf nicht ankomme. Eine Verdrängung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG könne nur durch einen Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft bewirkt werden, die im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. Die Verdrängung eines Tarifvertrages nach § 4a Abs. 2 S. 2 TVG sei daher anhand objektiver Mehrheitsverhältnisse festzustellen. Es komme dagegen nicht darauf an, ob die im Ausgangsfall von der Arbeitgeberin vorgenommenen „Schätzungen“ „schlüssig“ und „plausibel“ seien, was der Betriebsrat überprüft haben wollte. 

Gleiss Lutz kommentiert

Ist der Arbeitgeber in einem Betrieb an mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften gebunden, kommt der Frage, welche Gewerkschaft im maßgeblichen Zeitpunkt die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat, entscheidende Bedeutung zu. Im Falle einer solchen Tarifkollision sind nach der gesetzlichen Regelung des § 4a Abs. 2 TVG nämlich nur die mit der sog. Mehrheitsgewerkschaft abgeschlossenen Tarifverträge anwendbar. 

Das BAG setzt sich in seinem Urteil detailliert mit der korrekten Bestimmung der gewerkschaftlichen Mehrheitsverhältnisse im Betrieb auseinander. 

Das Urteil orientiert sich dabei zutreffend am Wortlaut des Gesetzes sowie an den Begründungen des Gesetzgebers. Die Bestimmung der gewerkschaftlichen Mehrheitsverhältnisse zu dem Zeitpunkt, in dem der letzte kollidierende Tarifvertrag schriftlich abgeschlossen wurde, überzeugt. Zudem steht es im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung, die Überwachungsaufgabe des Betriebsrates nur auf gegenwärtige und zukünftige Sachverhalte zu erstrecken. Dadurch bestätigt der Senat, dass Betriebsräte nicht als ein dem Arbeitgeber übergeordnetes Kontrollorgan fungieren (vgl. BAG vom 11. Juli 1972 – 1 ABR 2/72).

Gemäß § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG kommt es nur darauf an, welche Gewerkschaft im Betrieb tatsächlich die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat, was allein objektiv festzustellen ist. Um dies festzustellen, müssen die beteiligten Gewerkschaften notfalls zur Auskunft gezwungen werden. Subjektive Schätzungen – wie im vorliegenden Fall von der Arbeitgeberin praktiziert – oder die zu einem bestimmten Stichtag vorliegenden Tarifbindungsanzeigen sind dagegen rechtlich irrelevant. Ob und ggf. inwieweit dem Betriebsrat bei anders gelagerten Sachverhalten ein Auskunftsanspruch hinsichtlich kollidierender Tarifverträge zustehen könnte, lässt die Entscheidung des BAG offen.

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