Arbeitsrecht

Außerordentliche Kündigung nach Zustimmung des Integrationsamts

Nach § 174 Abs. 5 SGB IX kann eine außerordentliche Kündigung auch nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB ausgesprochen werden, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung des Integrationsamts erklärt wird. Entsprechend der Legaldefinition des § 121 Abs. 1 BGB bedeutet „unverzüglich“ auch im Rahmen von
§ 174 Abs. 5 SGB IX „ohne schuldhaftes Zögern“. Nach einer Zeitspanne von mehr als einer Woche ist ohne das Vorliegen besonderer Umstände grundsätzlich keine Unverzüglichkeit mehr gegeben.

BAG, Urteil vom 27. Februar 2020 – 2 AZR 390/19

Erfordernis der Zustimmung des Integrationsamts

Sowohl die ordentliche als auch die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber bedarf der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts, §§ 168, 174 Abs. 1 SGB IX. Dies gilt auch für die Kündigung eines gleichgestellten behinderten Menschen, § 151 SGB IX. Eine Kündigung, die ohne Zustimmung des Integrationsamts erklärt wird, ist unwirksam.

Erteilt das Integrationsamt seine Zustimmung zu einer ordentlichen Kündigung, kann der Arbeitgeber die Kündigung nur innerhalb eines Monats nach Zustellung der Entscheidung des Integrationsamts erklären, § 171 Abs. 3 SGB IX.

Erteilt das Integrationsamt seine Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung kann diese auch nach Ablauf der Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB ausgesprochen werden, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung des Integrationsamts erklärt wird, § 174 Abs. 5 SGB IX. Die sichere Kenntnis des Arbeitgebers von der Zustimmung genügt. Insofern ist auch eine (fern-)mündliche Bekanntgabe relevant (BAG, Urteil vom 21. April 2005 – 2 AZR 255/04, NZA 2005, 991). Für die Frage, ob eine außerordentliche Kündigung unverzüglich nach der Zustimmung des Integrationsamts ausgesprochen wurde, kommt es auf den Zugang der Kündigungserklärung beim Arbeitnehmer und nicht auf die Absendung des Kündigungsschreibens an (BAG, Urteil vom 3. Juli 1980 - 2 AZR 340/78).

Streit über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung der beklagten Arbeitgeberin. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit der klagenden Arbeitnehmerin erstmals mit Schreiben vom 16. März 2016 außerordentlich fristlos. Mit Schreiben vom 28. März 2016 informierte die Klägerin die Beklagte über ihren Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung. Daraufhin beantragte die Beklagte am 8. April 2016 die Zustimmung des Integrationsamts zu einer weiteren fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin. Mit Bescheid vom 20. April 2016, der Beklagten zugestellt am 22. April 2016, erteilte das Integrationsamt seine Zustimmung. Mit Schreiben vom 26. April 2016, der Klägerin zugegangen am 28. April 2016, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut außerordentlich fristlos. Die Klägerin beantragte festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 26. April 2016 nicht beendet wurde.

Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage der Klägerin stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Revision der Beklagten hatte Erfolg. Das Bundesarbeitsgericht hob das Urteil des Landesarbeitsgerichts auf und wies es zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück an das Landesarbeitsgericht.

Die außerordentliche Kündigung der Beklagten sei nicht schon deshalb unwirksam, weil die Beklagte die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB nicht eingehalten habe. Eine außerordentliche Kündigung kann auch nach Ablauf der Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB ausgesprochen werden, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung des Integrationsamts erklärt wird, § 174 Abs. 5 SGB IX. Der Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 BGB sei Anwendungsvoraussetzung des § 174 Abs. 5 SGB IX. Diese Vorschrift trage dem Umstand Rechnung, dass ein Arbeitgeber, der das Arbeitsverhältnis eines schwerbehinderten Menschen außerordentlich kündigen will, die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB typischerweise deshalb nicht einhalten könne, weil er zunächst die Zustimmung des Integrationsamts einholen muss. Unverzüglich bedeute auch im Rahmen von § 174 Abs. 5 SGB IX „ohne schuldhaftes Zögern“ i.S.d. Legaldefinition des § 121 Abs. 1 BGB. Schuldhaft sei ein Zögern, wenn das Zuwarten durch die Umstände des Einzelfalls nicht geboten sei. Unverzüglich bedeute weder sofort noch sei damit eine starre Zeitangabe verbunden. Es komme auf eine Abwägung der beiderseitigen Interessen an. Nach mehr als einer Woche sei ohne das Vorliegen besonderer Umstände grundsätzlich keine Unverzüglichkeit mehr gegeben. Erteilt sei die Zustimmung des Integrationsamts, sobald eine solche Entscheidung des Integrationsamts innerhalb der Zweiwochenfrist des § 174 Abs. 3 S. 2 SGB IX getroffen und der Antragsteller hierüber in Kenntnis gesetzt wurde. Die Zustimmung gelte als erteilt, wenn das Integrationsamt innerhalb der zwei Wochen keine Entscheidung treffe.

Von der Frage, ob die außerordentliche Kündigung rechtzeitig nach Zustimmung des Integrationsamts erklärt wurde, sei die Frage zu unterscheiden, ob die Zustimmung des Integrationsamts rechtzeitig beantragt wurde. Die Zustimmung des Integrationsamts zu einer außerordentlichen Kündigung kann nur innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis des Arbeitgebers von den für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen beantragt werden, maßgeblich ist der Eingang des Antrags beim Integrationsamt, § 174 Abs. 2 SGB IX. Die Einhaltung dieser Frist sei Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Erteilung der Zustimmung. Sie sei allerdings einer Prüfung durch die Arbeitsgerichte entzogen und allein vom Integrationsamt und im Fall der Anfechtung der Entscheidung des Integrationsamts von den Verwaltungsgerichten zu überprüfen. Solange die Entscheidung des Integrationsamts nicht nichtig oder rechtskräftig aufgehoben ist, sei die Arbeitsgerichtsbarkeit an diese Entscheidung gebunden.  

Gleiss Lutz kommentiert

Bei der Kündigung schwerbehinderter Menschen ist Sorgfalt des Arbeitgebers geboten. Die Zustimmung des Integrationsamts ist eine Wirksamkeitsvoraussetzung, § 168 SGB IX. Dies gilt sowohl für die ordentliche als auch für die außerordentliche Kündigung. Auch der Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung (sofern vorhanden) sind vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß zu beteiligen. Im Fall der außerordentlichen Kündigung eines schwerbehinderten Menschen sorgen die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist und die Fristen des § 174 SGB IX für zusätzliche Komplexität. Für den Arbeitgeber gilt, die im Vorfeld der Kündigung erforderlichen Schritte sauber vorzubereiten und die gesetzlichen Fristen genau im Blick zu behalten. Insbesondere beim Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung nach Zustimmung des Integrationsamts muss der Arbeitgeber zügig und bedacht handeln.

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